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Auf der Straße

Für ein paar Dumme mehr

Auf der Straße: Für ein paar Dumme mehr
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Es war August und heiß. Der Sommer 2022 steuerte mit den Himmelszeichen der drohenden Klimakatastrophe und überhitzten Hirnen einer irrwitzigen Karl-May-Debatte auf seinen Höhepunkt zu. Nie zuvor war so viel toxischer Medienbrei mit aufgeblasenen Schlagworten wie "Cancel Culture", "Kulturelle Aneignung" oder "Zensur" gekocht worden. Ein Grund für mich, auf der Suche nach neuen Badelatschen durch die Stadt zu schleichen. In Zeiten wie diesen erweist sich die Männersauna im Mineralbad Berg als letzter Zufluchtsort vor dem Wahnsinn. Und auf den Wegen zwischen Schwitzkasten und Kaltwasser brauchst du ordentliches Schuhwerk, da sich nicht alle Hygieneprobleme mit einem vom Regierungschef verordneten Waschlappen lösen lassen. Im Übrigen wage ich zu behaupten: Der Meinungs- und Stellvertreterkrieg um Karl May wäre niemals ausgebrochen, hätte der Schriftsteller nicht Ende 1911 einen Stopp in Stuttgart eingelegt. Der Kessel ist ständig in alles verstrickt.

In der unteren Königstraße lande ich in der Galeria Kaufhof, und weil mein Hirn derzeit etwas weniger ausgetrocknet ist als die Po-Ebene, fällt mir ein, dass auf dem Kaufhaus-Gelände einst das Universum stand. Ein Lichtspieltheater mit 1.000 Plätzen, das nach dem Zweiten Weltkrieg trotz teilweiser Zerstörung weitergeführt werden konnte und bei Premieren internationale Showstars anzog. Stuttgart war seinerzeit ein beliebtes Promi-Pflaster; in der Stadt gab es Autos von Mercedes und Porsche.

Am 12. Dezember 1962 wurde im Universum "Der Schatz im Silbersee", der erste Karl-May-Film, uraufgeführt. Die Regie hatte man dem österreichische Berg- und Heimatschwärmer Harald Reinl anvertraut. Der verstand etwas von deutscher Ästhetik: In der Hitler-Diktatur hatte er der Nazi-Ikone Leni Riefenstahl als Mitautor und Regieassistent bei ihrem Film "Tiefland", einer Produktion mit Zwangsarbeiter:innen, gedient. Und 1955 lief Reinls Film "Solange du lebst" in den Kinos, ein Machwerk über einen Piloten aus Hitlers Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg mit "offen pro-faschistischer Tendenz", wie es im "Filmdienst" heißt.

Pierre Brice entkam in Polizei-Uniform

Die "Silbersee"-Version orientierte sich nur wenig am Buch, der Hype um den Film war dennoch so groß, dass Groupies das Taxi des Winnetou-Darstellers Pierre Brice zerbeulten. Nach der Vorstellung musste ihm ein Polizist eine Uniform leihen, damit er den lustigen Weibern von Stuttgart entkommen konnte. Zuvor war der Franzose so unbekannt gewesen, dass er für seine Häuptling-Rolle mit 42.000 D-Mark Gage abgespeist wurde. Der US-Tarzan Lex Barker als deutschblonder Old Shatterhand ohne Hut erhielt 120.000, der Brite Herbert Lom als Bösewicht Colonel Brinkley 78.000 Mark.

All das wusste ich natürlich nicht mehr auswendig, als ich im Kaufhof Badeschlappen suchte, die Sache aber war mir nicht ganz neu. Im Universum wurde schon vor meiner Zeit echte amerikanische Kultur live präsentiert: 1952 trat auf der Kinobühne Louis Armstrong auf, vier Jahre später Miles Davis (mit dem Rücken zum Publikum, was einen kleinen Skandal auslöste, dessen eventuelles Rassismus-Motiv nicht mehr erforscht werden kann). Solche Geschichten interessieren dich irgendwann, wenn du wie unsereiner dank krimineller Missachtung der Altersfreigabe in deinem Dorfkino schon früh vom "Schatz im Silbersee" auf "Für eine Handvoll Dollar" umgestiegen bist.

Nicht weit vom früheren Universum steht das Metropol, ein historisches Lichtspieltheater-Gebäude in der Bolzstraße, das es zu neuer Berühmtheit gebracht hat, weil zuletzt beinahe eine Kletterhallen-Firma eingezogen wäre. Das Metropol-Logo ist inzwischen entfernt, aber es sieht alles danach aus, als könnte der Kinobetreiber Heinz Lochmann das Haus 2023 neu eröffnen. Da der Eingang auch zu einem Restaurant führt, liest man über der Tür Werbekalauer wie "Spiel mir das Lied vom Pizzabrot" oder "Stirb Lasagne 4.0". Buon appetito.

Auf dem Metropol-Gelände stand einst Stuttgarts erster Bahnhof und in der Nachbarschaft das legendäre Hotel Marquardt, in dem Größen wie Richard Wagner, Otto von Bismarck und Max Schmeling logierten. Gast des Hauses war öfter auch Karl May; 33 seiner im Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld erschienenen Bände wurden damals in der Stuttgarter Druckerei Felix Krais, Rotebühlstraße, produziert.

Am 27. Juli 1911 treffen sich May und seine Frau Klara im Marquardt mit dem Juristen Euchar Albrecht Schmid, der zuvor als Zeitschriftenredakteur beim Stuttgarter Versicherungsverein gearbeitet hat. Schmid ist leidenschaftlicher Unterstützer des zwielichtigen Schriftstellers, der damals heftigen Anfeindungen ausgesetzt ist. Auch sein Verleger Fehsenfeld geht auf Distanz. Bei dem Marquardt-Meeting wird erstmals über die Gründung eines neuen Verlags für Karl May gesprochen. Der Rest ist Geschichte: Am 30. März 1912 stirbt Karl May, am 1. Juli 1913 gründen seine Witwe Klara, Fehsenfeld und Schmid (als Geschäftsführer) in Radebeul einen Verlag, der von 1915 an Karl-May-Verlag heißen wird. 1959 zieht das Unternehmen wegen Mays Ablehnung in der DDR nach Bamberg um, seit 1996 residiert es unter der Leitung von Euchars Enkel Bernhard Schmid in Radebeul und Bamberg. Ohne das Stuttgarter Treffen nur acht Monate vor Mays Abgang in die ewigen Jagdgründe wäre sein Werk womöglich in der Versenkung verschwunden.

Kocht der Volkszorn, zählen Fakten nicht

Heute spielen sich unzählige May-Fans in den sogenannten sozialen Medien auf, als würden sie nachträglich ihrer Kindheit beraubt, weil der Ravensburger Verlag die Veröffentlichung zweier Kinderbücher zum aktuellen Kinderfilm "Der junge Häuptling Winnetou" abgeblasen hat. Das Unternehmen traf diese Entscheidung nach unaufgeregter Kritik aus der eigenen Umgebung. Zwar haben die Bücher mit Karl May so wenig zu tun wie der Film, rasch aber erfand "Bild" einen "Shitstorm" gegen die Ravensburger, streute die Lüge vom Angriff "linker Aktivisten" auf das Karl-May-Werk an sich und krönte ihre Kampagne mit der Schlagzeile "ARD zeigt keine Winnetou-Filme mehr". In Wahrheit hatte der Sender seine schon 2020 abgelaufenen Lizenzen für Karl-May-Filme nicht verlängert (das ZDF wird sie auch in Zukunft ausstrahlen).

Kleingedrucktes jedoch las kaum noch jemand, der Giftkübel war gefüllt und die Kacke am Dampfen, weil viele Medien ungeprüften Bullshit verbreiteten und so zur Freude der Rechten millionenfach Hass und Hetze im Netz säten. Auch die Politik mischte mit. So referierte Baden-Württembergs grüne Kultusministerin Theresa Schopper: "Kinderbücher von früher bedienen nun mal Klischees. Struwwelpeter ist schwarze Pädagogik pur. Sollen wir ihn deswegen verbieten?" Zwar hatte niemand irgendwas "verboten" und schon gar nicht ging es im Fall Ravensburger um Bücher "von früher". Aber Fakten zählen nicht. Rundum kocht der Volkszorn, als bedrohe eine kleine stur-verletzliche Minderheit mit ihrem Identitätsfanatismus die Gesellschaft. Alles wird vermischt, von der Dreadlocks-Farce bei einer Kneipen-Mucke über rücksichtsvollen Sprachgebrauch bis zu Bücherverbrennung. Und selbst halbwegs Aufgeklärten fällt in ihrer moralischen Panik nicht auf, wie die rechte Propaganda systematisch Antirassismus und anderen Gerechtigkeitsaktivismus mit der Formel "links = woke = völlig durchgeknallt" diffamiert.

Bevor ich in neuen Latschen Richtung Sauna fliehe, noch die Frage: Wer eigentlich liest heute noch Karl May? Vermutlich wären auch die beiden neuen Kinderbücher namens "Der junge Häuptling Winnetou" nur von ein paar Großvätern in Mokassins gekauft worden. Die weißen Häuptlinge hätten sich damit selber aufgegeilt, bevor ihre Enkel den Kram unterm unwoken Weihnachtsbaum gefunden und in die grüne Tonne getreten hätten, weil sie lieber mit Tablets als mit Tomahawks spielen.

Leider ging in der Empörungsschlacht um das Recht auf Freiheit, Dummheit und die Silberbüchse die wichtigste Erkenntnis der deutschen Literatur- und Filmgeschichte unter: Ein Schuss, ein Schrei – das war Karl May.


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1 Kommentar verfügbar

  • Hansjörg Dr. Thomae
    am 08.09.2022
    Antworten
    Der Text zu Karl May ist große Klasse! Kompliment.
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