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Auf der Straße

Unser Klima/chen

Auf der Straße: Unser Klima/chen
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Weit bin ich nicht gekommen in den Tagen, bevor ich diese Kolumne in Angriff genommen hab. Das Wort "Angriff" ist etwas großkotzig gewählt. Die Augusthitze und eine Sommergrippe haben mich lahmgelegt. Aber nur weil meine Kolumne "Auf der Straße" heißt, muss ich mir ja nicht dauernd die Hacken ablatschen. Das Pflaster vor meiner Haustür ist heiß genug, um die Welt in Flammen zu sehen.

Es ist eine alte Erfahrung, von seiner unmittelbaren Umgebung weniger mitzubekommen als von einem fremden Ort, den man wichtiger nimmt, schon um sich selbst wichtiger vorzukommen. Fällt mir Erich Kästner ein: "Irrtümer haben ihren Wert; / jedoch nur hie und da. / Nicht jeder, der nach Indien fährt, / entdeckt Amerika."

Da die Entdeckung Amerikas die Menschenrechte hervorbrachte und gleichzeitig einen Völkermord heraufbeschwor, bin ich mit Eroberungen vorsichtig. Nicht weit von meiner Haustür, am Kernerplatz mit Erich Hausers himmelwärts strebender Edelstahlplastik, steht etwas abseits der Justinus-Kerner-Brunnen. Immerhin, er spendet noch Wasser. Die Statue auf dem Sockel zeigt den Dichter, Mediziner und Maultrommler mit einer Gitarre auf dem Rücken. Ein Ludwigsburger Folkie on the road. An guten Tagen besinge ich mit Justinus im Duett den Tod des Musikanten: "Es war ein Spielmann zu Weinsberg, / Der lustige Peter genannt, / er spielte die Geige, das Hackbrett / Und hinkte benebelt durchs Land."

Der babylonische Sound der Welt

Ich wohne in einem internationalen Viertel. Das hat mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst zu tun, mit der John-Cranko-Schule, mit den nahen Staatstheatern und ein wenig mit dem kleinen Kulturzentrum Labyrinth. Wenn ich abends am Kernerplatz auf einer Bank sitze, höre ich den babylonischen Sound der Welt. Die Menschen dort sprechen nicht unbedingt miteinander, aber immer so laut in ihre Mobiltelefone, als hätten sie Kontakt mit fernen Kontinenten oder Galaxien. Womöglich aber teilen sie gerade nur jemandem mit, ob sie Schawarma mit oder ohne Knoblauch vom benachbarten Al Sendiebad Markt oder aus dem gegenüberliegenden Kebab-Imbiss Prinz wünschen.

Vieles im Viertel ist türkisch. Das Konsulat mit dem verblichenen Schild am Eingang und der Fahne mit dem Halbmond, der auch nicht mehr das Zeug zum Vollmond hat. Doch stehen vormittags quicklebendige Menschen vor dem Gebäude, das die meiste Zeit aus einem Polizeiauto heraus überwacht wird. Manchmal, wenn es sehr heiß ist, essen die Cops am Kernerbrunen ein Eis, was vermutlich nicht der Fall war, als neulich nächtens Unbekannte ein Konsulatsauto in Brand setzten. Auch ich hab' die Sache verschlafen. Es war zu heiß, um Flammen zu bemerken.

Selbstverständlich gibt es ein türkisches Restaurant am Platz, das Bosporus, in dem ich gern bin. Auch allerlei türkische Geschäfte und Büros, weshalb Weltbetrachter der alten Sorte über unser "Klein-Istanbul" spotten, bevor sie mit ihrem All-you-can-eat-Urlaub Erdogan beehren. An einem Haus in der Kernerstraße mit Hinweisen auf eine Turkish-Airlines-Filiale und eine türkische Immobilienfirma entdecke ich das Schild des Deutschen Tonkünstler Verbands (DTKV). O Mann, will nicht wissen, was da gerade los ist. Überall Horrormeldungen über ausbleibendes Publikum in der Kulturszene, schlimm wie der Kundenschwund in Straßenbahnen und Stadtbussen.

Viel zu viele verweigern nach den Corona-Maßnahmen ihr Comeback. Das gilt vor allem für die mittleren und kleineren Kulturveranstaltungen. Nicht zu vergleichen mit den Mentalitäten im Star-Zirkus des Big Business, und niemand beschreibt das besser als Jan Brachmann in seiner FAZ-Rezension der "Tristan und Isolde"-Premiere bei den Bayreuther Festspielen: "Noch bevor der letzte H-Dur-Akkord in Schönheit erstirbt, muss die Gattung der Eventkonsumenten signalisieren, dass Zeit und Geld richtig investiert waren. Man jubelt, klatscht, triumphiert in lautstarker Brutalität in die Musik hinein, hörbar unberührt von deren Weisheit und Traurigkeit. Und anders als bei den Klimaaktivisten, die vor Beginn der Vorstellung in den Bäumen des Festspielparks eine Emissionsentschuldung der Entwicklungsländer forderten, hat diese Lautkundgebung keinen andren Zweck, als auf sich selbst zu verweisen."

Habeck kontert mit Kaminfeuer-Poesie

Die Gattung der Eventkonsumenten treibt überall ihr Unwesen, ob Wagner oder Pop. Für unsereinen ist das mit ein Grund, verstärkt an Eigeninitiativen und die Organisation kleiner Sachen für erschwingliche Eintrittspreise zu denken. Angesichts Corona, drohender Klimakatastrophe und existenzieller Energiekrise brauchen wir neue Begegnungsorte. Kulturelle Zellen, die außer Vergnügen auch politische Zeichen vermitteln: Aufklärung und Kraft zur Abwehr der Rechten und Nazis, die mit ihrer Hetze demokratische Errungenschaften attackieren. Schon jetzt, noch bevor die erste reife Kastanie auf meinen Hut knallt, drohen sie mit ihrem "Wutwinter". Der deutsche Volksdichter Habeck kontert mit Kaminfeuer-Poesie: "Putin hat das Gas. Aber wir haben die Kraft." 

Sorry, der Tonkünstlerverband hat mich gerade weit weggeführt aus meinem Viertel, das mir problemlos Kolumnenstoff für mehrere Jahre liefern könnte. Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Elend liegt so nah. Ich lebe im Zentrum der Macht. Nur einen Steinwurf entfernt von dem zeitgenössischen Hochbunker des Ministeriums für Inneres und Digitalisierung. Erinnert mich daran, dass der Minister Strobl nicht nur als unser schwärzester Sheriff, sondern auch als oberste Online-Leuchte unterwegs ist. Ein Tausendsassa, unser Knäbchen von Heilbronn.

Direkt vor meiner Nase steht das Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz am Kernerplatz. Oft sitze ich auf den stattlichen Kanthölzern im Rammbockformat vor dem Ziegelsteingebäude und schaue in den blauen Sommerhimmel, der uns die Hölle verspricht. Manchmal, nach dem Joggen, mache ich hier auch ein paar Liegestütze fürs letzte Gefecht.

Die Winde der Marketing-Pupserchen

Sinnigerweise hat der CDU-Minister Hauk als wichtigster Volksernährer neben dem Eingang einen Automaten mit Metzgerproviant postiert. Nach Bar- oder Kartenzahlung poltern einem neben Lammgulasch, Wildschweingulasch und Rehgulasch auch Bierschinken und Leberwurst in Blechdosen vor die Füße. Selbst eine Küchenpfeife wie ich hat hier gewisse Überlebenschancen, solange sie in Zeiten der Umwelt-Cholera auf vegetarische/vegane Pflichten pfeift. Warum ich nicht koche? "Niemand besitzt das Leben. Aber jeder mit einer Bratpfanne besitzt den Tod.", sagt William S. Burroughs. Im Automaten lagern auch Bio-Säfte für den Fall meines Hungerstreiks.

An der Ministeriumsfassade hängt ein Transparent: "Klimaneutral bis 2040 – Gemeinsam packen wir's an". Wie alle heimischen Landei-Verlautbarungen ist auch dieses Poster mit dem Blödel-Branding "The Länd" dekoriert, was von einem weiteren Geniestreich des Kalauergewerbes noch überboten wird: JETZT KLIMA CHEN – geschrieben mit einem Absatz zwischen Klima und chen. Das ist die höchste Kunst politischer Propaganda-Lyrik: Klima / chen.

Verdammte Scheiße, man kann Wellen, Unsinn und sich ein Frühstück aus Wildschweingulasch-Dosen machen. Aber der Geist, der hinter "Klima / chen" in den Winden der Marketing-Pupserchen weht, macht auch die letzte Hoffnung zunichte, die Politik könnte irgendwas Ernsthaftes gegen das Inferno der Natur und die Klimakatastrophe unternehmen. Es ist Zeit, die Benebelten mit Hackbrett, Maultrommel und Blechbüchsen heimzugeigen. Packen wir's an.


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