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Auf der Straße

Auf dem Sofa

Auf der Straße: Auf dem Sofa
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Spazierengehen hat auch den Sinn, sich hin und wieder selbst zu begegnen, so erschreckend das sein mag. Nicht unbedingt erbaulich, auf seinem Marsch durch die Gedanken eine Vorstellung von sich selbst zu bekommen, ähnlich wie man früher einen Film in der Dunkelkammer entwickelt hat. Nach und nach wird das Bild schärfer, und dann fällt mir ein, was der Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt gesagt hat: "Wir wissen, so wie es ist, kann es nicht weitergehen. Aber es geht weiter." So stolpere ich vor mich hin wie ein williger Esel und sage mir mit James Joyce: "Wir können das Land nicht ändern. Ändern wir also das Thema."

Damit ist mein Kapitalistisches Manifest perfekt. Ich könnte in Ruhe weitertrotteln und nachts gut schlafen – wäre mein treuester Begleiter nicht das schlechte Gewissen. Laut Psychologen handelt es sich dabei um die fehlende Harmonie im Bewusstsein. Eine eher überraschende Diagnose, weil sie andeutet, ich hätte ein Bewusstsein.

Den Begriff "schlechtes Gewissen" habe ich gegoogelt und eine Menge Tipps zur Erlösung von dem Übel gefunden, mir das Zeugs aber vorsichtshalber nicht näher angeschaut. Frei von Gewissensbissen würde ich mein Sofa nämlich nicht mehr verlassen, um auf die Straße zu gehen. Das Sofa ist zum Symbol für den großmäuligen Nichtstuer geworden. Im sogenannten Netz, dem Zentrum des Gewissens, werden ständig Leute als "Sofa-Kommentatoren" abgekanzelt, speziell in Debatten über den Krieg in der Ukraine. Der Begriff geht auf TV-Formate zurück, in denen fernsehende Freaks die Welt erklären. Zwar ist kaum anzunehmen, dass alle, die anderen eine arschbequeme Couch-Position vorwerfen, als Frontkämpfer im Schützengraben liegen. Als Sofa-Kommentatoren aber gelten nur jene, die in der allgemeinen Frontbegeisterung nicht die richtige Frontbegeisterungsmeinung äußern.

Bilder von uneinnehmbaren Bürokratieburgen

Ich in meiner militanten Lumpen-Naivität denke ja immer noch, es meinem schlechten Gewissen schuldig zu sein, wenigstens hin und wieder etwas vor meiner eigenen Haustür zu tun. Es ist ja keineswegs so, dass der Krieg in der Ukraine nicht auch das Leben unserer Umgebung beeinflusst. Wer sich mit den Bedingungen der Geflüchteten generell in seiner Stadt beschäftigt, wird schnell merken, dass es seit dem russischen Überfall auf die Ukraine noch mehr zu tun gibt als zuvor.

Es reicht ein Blick am Morgen auf die Szenen vor den Stuttgarter Behörden in der Eberhardstraße. Ausländeramt, Sozialamt, Ordnungsamt. Die Schlangen werden immer länger. Dies schon wäre ein Grund, für die auf die Straße zu gehen, die auf der Straße stehen. Auch deshalb, weil ich nicht den Eindruck habe, wir seien über die herrschenden Zustände in der Stadt gut informiert. Drohende Hierarchie-Konflikte zwischen neu angekommenen Geflüchteten aus der Ukraine und vielen anderen, die seit Jahren in miesen Verhältnissen hausen, sind keine Schwarzmalerei. Das höre ich von Leuten, die mittendrin arbeiten.

Die Bilder von den uneinnehmbaren Bürokratie-Burgen vor Augen erscheint es geradezu lächerlich, wenn ausgerechnet jetzt Stuttgarts CDU-Oberbürgermeister einen SPD-Stadtrat als seinen leibeigenen "Chefstrategen" einstellt. Motto: Ich, der Kopf des sinkenden Schiffs, äh, des stinkenden Fischs, blick nicht durch, vielleicht aber der Andere, auch wenn der in dieser Beziehung nie jemandem aufgefallen ist. Zuständig ist der Neue für so moderne Sachen wie Klima, nachhaltige Mobilität und ähnliche Rathaus-Staus.

Wer ratet, der kostet

In der Presse wurde er als "Chefberater" angekündigt, als weiterer sidekick neben der Gemahlin des Rathauschefs, auch Frau Oberbürgermeister genannt. Jetzt brauchen wir für den nachhaltigen Erfolg nur noch einen Chefberater des Chefberaters und einen Beratungschef des Chefberaters des Chefberaters des Chefs. Vom Zitieren des Sprichworts "Guter Rat ist teuer" rate ich in diesem Zusammenhang ab, da im Fall Stuttgart auch die geballte Ratlosigkeit nicht gratis ist. Merke: Wer ratet, der kostet.

Dass die neue Riesenrat-Version für den Rummel-beseelten Oberschultes ausgerechnet aus der SPD-Fraktion des Gemeinderats kommt, werten nicht nur die letzten Kämpfer für die Räterepublik als traditionelle Sozen-Strategie: Wer hat uns verraten …? Es wäre Zeit, das Rathaus in Rat-Rat umzutaufen. Dagegen spricht nicht mal mehr eine gleichnamige Kneipe im Stuttgarter Westen. Die nämlich heißt inzwischen Feinstaub.

Wo das alles hinführt? Dreimal darfst du raten. Erinnert an Slapstick, dieser Ratschlag der Pfauen ins Gesicht all derer, die unters Rad versagender Ämter geraten. Und nun Schluss damit. Wortspiele machen mir ein schlechtes Gewissen.

Es wird immer schwieriger, in der Spur zu bleiben. Nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie spielt das Sofa auch in der Kunst- und Kulturarbeit eine tragende Rolle. Immer öfter höre ich den Begriff "Sofa-Magnet". Viele Veranstaltungen in Theatern, Kleinkunstbühnen oder Clubs laufen schlecht. Große Teile des Publikums finden nach den Lockdowns nicht mehr zurück in die Kulturhäuser. Nicht wenige Vorstellungen werden abgesagt. Veranstalter, die jenseits der nach wie vor florierenden Massen-Events vergleichsweise intime Dinge anbieten, zerbrechen sich den Kopf über das Phänomen. Guter Rat ist in diesem Fall nicht unbedingt teuer, aber nicht in Sicht. Und weil sich so schnell nichts ändern wird, ändere ich das Thema.

Kiew fordert Bühnenpolitik nach seinen Wünschen

Seit dem Krieg in der Ukraine hat die Kulturarbeit hierzulande auch ein politisches Problem. Die Regierung in Kiew fordert nicht nur Waffen, sondern auch Bühnenpolitik nach ihren Wünschen. Kleines Beispiel von vielen: In überschaubarem Kreis hatten wir vor, in Stuttgart einen literarisch-politischen Abend mit Livemusik aus Pop und Klassik zum Thema "Krieg und Frieden" zu veranstalten, mit Vorträgen aus deutscher, ukrainischer und oppositioneller russischer Sicht. Aufgrund der aktuellen Entwicklung hatten wir eine russische Autorin nachträglich ins Programm genommen; sie ist Jüdin und lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Stuttgart. Daraufhin zog die ukrainische Kollegin ihre Teilnahme zurück. Zur Vermeidung eines faulen Kompromisses sagten wir die Veranstaltung ab.

Das Ukrainische Institut, eine staatliche Einrichtung zur Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur, vergleichbar mit dem Goethe-Institut, hat einen "Aufruf zur Aussetzung der kulturellen Zusammenarbeit mit Russland und der internationalen Präsentation der russischen Kultur" veröffentlicht. Darin geht es nicht nur darum, russische Werke – wie etwa Musik von Tschaikowski – von den Spielplänen zu streichen. Ukrainische Künstler:innen werden angewiesen, Auftritte von Kolleg:innen mit russischem Hintergrund zu boykottieren. Das gilt auch für die, die sich klar gegen das russische Regime positionieren oder Aktionen zugunsten ukrainischer Menschen unterstützen. Das heißt: Sogar die so wichtige inhaltliche Perspektive russischer Regimegegner:innen soll auch auf unseren Bühnen ausgeblendet werden. Folgt man dem Aufruf des Ukrainischen Instituts konsequent, müssten selbst die Shows der russischen Punkrock-Rebellinnen Pussy Riots auf den Index gesetzt werden.

Der demokratische Gedanke, wonach Kunst vor allem dazu da ist, das Miteinander von Menschen grenzüberschreitend zu ermöglichen, hat nur noch bedingt Gültigkeit. Und jetzt fragt mich mein schlechtes Gewissen: Was gibt es in der Praxis noch Vernünftiges zu tun? Wie mit den Dingen umgehen? Wieder mal bin ich fast so ratlos wie ein chefberatener Chef. Nach meiner Vorstellung (die ich noch nicht komplett gecancelt habe) wird es nicht reichen, vom Sofa aus mehr schwere Waffen für die Ukraine zu fordern, um sein schlechtes Gewissen zu killen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Joe Bauer
    am 15.06.2022
    Antworten
    Danke, lieber Michael. Wird geändert (die Rat-Rat-HP ist noch im Netz …)
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