Es bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als meine Meinung abzugeben. Ein großer Schritt nicht nur für mich, sondern für die Menschheit in meiner Umgebung.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, seine Meinung loszuwerden: in Kolumnen, Kommentaren, in der Kneipe. Oder in den sozialen Medien, wo eine abgegebene Meinung noch schneller Reaktionen provoziert als auf dem Fußballplatz oder im Wirtshaus, wo du dir postwendend eine komataugliche Gegenmeinung einfangen kannst. In diesem Fall spricht man von einem Meinungsstreit, üblicherweise schlichtet man ihn wie Putin, ein "Typ aus den Hinterhöfen Sankt Petersburgs, aus ganz armen Verhältnissen, wo Konflikte nach dem Recht des Stärkeren geregelt werden". Diese Zitat stammt von dem russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew, dessen Roman "Der gute Stalin" ich gerade lese.
Den Entschluss, meine Meinung so "unwiderruflich" abzugeben wie unser Gas-Gerd seine Hannoversche Ehrenbürgerwürde, verdanke ich dem Krieg in der Ukraine. Diesem Krieg, über den vermutlich nicht nur ich so wenig Fakten habe, dass er nach einer Meinung schreit. Millionen Männer und Frauen entdecken jetzt den Clausewitz in sich und ihre neue Liebe zu KameradIn Schnürschuh, während unsereiner tremoliert:
Wenn sich die späten Nebel drehn / Werd' ich bei der Laterne stehn / Wie einst / Lili Marleen.
Bekanntlich nutzen im Digitalzeitalter und besonders seit der Pandemie ganze Armeen aus der vernebelten Zivilbevölkerung ihre Chance, Information durch Meinung zu ersetzen. Bist du nicht zur falschen Zeit in der falschen Bar oder auf dem falschen Fußballplatz, wo es zu Recht auf die Laterne gibt, genießt du Meinungsfreiheit. Gleichzeitig herrscht im sogenannten Netz demokratische Beleidigungsfreiheit, weil die Beleidigung die Schwester der Meinung ist.
Kaffee mahlen statt Meinung haben
Guten Morgen, Deutschland. Wenn ich den Handhebel meiner kleinen Kaffeemühle aus Harry's Kaffeerösterei sechsundvierzigmal drehe, erziele ich exakt die Menge Pulver, die ich für eine Tasse Kaffee brauche. Um dies herauszufinden, musste ich viele Bohnen zermalmen. Warum tippst du solchen Bullshit in deine Kolumne?, fragt Sitting Bull, der mit verschränkten Armen und tönerner Gelassenheit auf meinem Schreibtisch steht. Mir bleibt nichts anderes übrig, sage ich, ich habe meine Meinung abgegeben. Ich bin ein Meinungsdeserteur. Im Übrigen, ergänze ich, dauert es keine Minute, den Handhebel meiner Kaffeemühle sechsundvierzigmal zu drehen, und bei keiner anderen Tätigkeit bin ich mir so sicher, etwas Vernünftiges zu tun. "Nichts kann mehr zu einer Seelenruhe beitragen, als wenn man gar keine Meinung hat", hat mal ein berühmter Mann gesagt (Name dem Verfasser bekannt). Und auch wenn ich kein Putin bin, kann ich doch von mir behaupten: Gottes Mühle mahlt trefflich fein.
3 Kommentare verfügbar
Claudia Heruday
am 24.03.2022Wenn ich zitieren darf: "Es ist alles zum Kotzen. Meine Meinung."