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Auf der Straße

Gesund und billig

Auf der Straße: Gesund und billig
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Im Hauseingang eines Wohlfahrtsverbands stolpere ich beinahe über die Botschaft im sehr alten Fliesenboden: "Fleiß bringt Preis". Ich hab ein gestörtes Verhältnis zu den Belohnungssystemen, mir fällt dazu immer ein Spruch ein, den ich als junger Kerl in "Pardon" gelesen habe: "Ohne Scheiß kein Preis".

Bei der Wohlfahrt rede ich zur Vorbereitung einer Kundgebung mit einem Sozialarbeiter über die Folgen der Pandemie. Politischer Protest ist ja nicht dazu da, Aktionsdrang auszuleben, er ermöglicht Begegnungen und hält einen in Bewegung wie das Spazierengehen. Das ist lebenswichtig in diesen Tagen, da laut Zeitungsberichten vor allem die Menschen in Baden-Württemberg "coronamüde" sind. Es riecht verdammt nach Weltuntergang, wenn im Land der Schaffer alle schlaffer werden.

Also versuche ich mich in Gang zu halten, unterwegs zu sein und auf der Straße. Neulich habe ich wieder etwas über die Mobilisierung von Kopf und Körper gelernt, in Hari Kunzrus Roman "Red Pill": "Ich überlegte, ob ich umkehren sollte, aber ich habe eine Abneigung dagegen, bei einem Spaziergang auf gleichem Weg zum Ausgangspunkt zurückzugehen. Es ist dann schwer, an etwas anderes als das Ziel zu denken, und so fällt man aus der Gegenwart in einen merkwürdigen Zustand, eine Mischung aus Vorgefühl und Erinnerung. Man sieht zum zweiten Mal die vertrauten Dinge am Wegrand, und die Gedanken treiben voraus zu dem, was man nach seiner Rückkehr tun wird."

Ich kann nicht behaupten, mich quälten nach jeder Umkehr die Dinge nach der Rückkehr. Verschiedene Hin- und Rückwege allerdings, das leuchtet mir ein, machen die Welt interessanter. Das Wort "interessant" gibt es heute nicht mehr, es wurde durch "spannend" ersetzt. Alles, die langweiligste Yoga-Übung und ein Burger an der Imbissbude, ist inzwischen so "spannend" wie das Hemd über dem Bauch eines coronarüden, verschwörungsverseuchten Schwaben, der seinen Arsch vorzugsweise als Mitläufer bei "Querdenken"-Aufmärschen bewegt.

Spannend, wie undifferenziert ich heute wieder daherkomme. Man könnte auf eine gewisse Coronamüdigkeit schließen, auf eine Todessehnsucht, was allerdings nicht ganz richtig wäre. Womöglich treibt mich nur eine unbewusste Gier auf einen Scheißpreis für meinen Schweißfleiß als Herumgeher um und führt zu pandemiebefeuerten End-Entladungen.

Das Spazierengehen, habe ich als Beinarbeiter erfahren, wird nicht weniger aufregend, wenn ich mich ständig im selben Radius bewege. Die Sache bleibt spannend. Da ich seit einiger Zeit an der Nahtstelle zwischen Mitte und Ost im Stuttgarter Kernerviertel wohne, sehe ich mich als Grenzgänger. Hochstapelei gehört zum Handwerk jedes Kolumnenfüllers, der ein paar Klicks einfahren will. Erst recht, wenn er glaubt, er könne das Leben als Spaziergang betrachten und diese Nummer erfolgreich der Kundschaft vorführen. Abhandlungen über die fehlende Berufsausbildung von Politikgrößen brächten zurzeit entschieden mehr Klicks. Wenn du aber wie ich deine Schulzeit im Stadtpark und in Kneipen statt im Klassenzimmer verbracht hast, endest du als Spaziergänger. Dann musst du ermüdend lange herumstiefeln, bis dir einer sagt, warum es falsch ist, auf dem Rückweg dieselbe Route wie auf dem Hinweg einzuschlagen. Dabei hätte dich das Leben auch ohne abgeschlossenes Studium lehren müssen: Es gelingt dir nicht, dorthin zurückzukehren, wo du hergekommen bist – irgendwas hat sich verändert. Das hat mit Gegenwart und Vergangenheit zu tun, und das musst du begreifen, solange du trotz der Pest noch ein paar Tage Zukunft hast. Es geht voran, immer, in welche dunkle Vergangenheit auch immer.

Günstiges Wohnen für die arbeitende Klasse

Noch nie bin ich nach Osten geschlendert, die Landhausstraße entlang bis zum Ostendplatz, ohne an Manfred Essers "Ostend-Roman" zu denken. Wo uns Frl. Dr. Glück sagt, dass heute der Krieg und nicht Russland unser Feind ist. Ja, heute. Das Buch, 1978 im legendären März-Verlag erschienen, liegt zu Hause immer noch griffbereit in meinem Regal. Der gelbe Umschlag mit den schwarzen und roten Buchstaben und der historischen Abbildung ist zerfleddert, was mich nicht stört. Auch meine Hülle ist zerfleddert, vermutlich wie das Hirn. Das ist der Preis, den du irgendwann zahlst.

Den Schriftsteller Manfred Esser (1938 bis 1995) habe ich Anfang der Achtzigerjahre kennengelernt. Leicht verschwommen erinnere ich mich an eine der wenigen Begegnungen. Wir saßen mit dem Sportreporter und Schriftsteller Hans Blickensdörfer ("Die Baskenmütze") im Degerlocher Fäßle, dem Restaurant der Wirtsleute Inge und Eugen Maier. Im Oktober 1977, nach der Beerdigung von Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe auf dem Dornhaldenfriedhof, hatten sie ihre Gaststätte für die Trauerfeier zur Verfügung gestellt, was einen prädigitalen Shitstorm heraufbeschwor. Die Maiers kann man in dem Episodenfilm "Deutschland im Herbst" sehen, der Gemeinschaftsproduktion von Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Alexander Kluge.

Seit der Lektüre des "Ostend-Romans" in den Siebzigern und vor allem nach der Sitzung mit Esser und Blickensdörfer im Fäßle, als beim Palaver über RAF & Tour de France bis zu einer gewissen Alkoholmüdigkeit getrunken wurde, ist Stuttgarts Ostend für mich eine Art heiliger Gral. Das Buch beginnt mit dem Kapitel über "Die Muster-Kolonie Ostheim mit billigen, gesunden Familien-Wohnungen, erbaut in den Jahren 1891 bis 1901 vom Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen". Es hat weiß Gott nichts mit Vergangenheitsschwärmerei zu tun, wenn ich mit wummerndem Kopf-Blues an den Backsteinhäusern vorbeigehe, die der jüdische Bankier Eduard Pfeiffer für das Proletariat bauen ließ (auch in der Absicht, nach Achtundvierzig weitere revolutionäre Gedanken einzudämmen). Diese schöne Architektur ist für mich sehr gegenwärtig in einer Stadt, in der die Mietenexplosion und die Wohnungsnot die arbeitende Klasse in die Existenznot treiben. Kommt von der Stuttgarter Immobilienhai-Politik: Ohne jeden Fleiß den höchsten Preis.

Auf der ersten Seite in Essers Buch heißt es: "Das Teckplätzle, jetzt zappenduster, liegt immerhin mitten drin – als sei's die Wiege des Ostends. Womöglich das tadellos abgebundene Näbelein dieses doch undeutlichen Territoriums." Dieser Ort mit seinen Pflastersteinen heißt heute Eduard-Pfeiffer-Platz. Auf meinem Weg zum Ostendplatz, wo es viele Läden und Kneipen und die Ostend-Buchhandlung gibt, komme ich jedes Mal am Denkmal des Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen vorbei, und fast immer mache ich dort eine kurze Pause (wie kurz danach beim "Schwarzmahler", dem antifaschistischen Kaffeeladen). Der Stein am ehemaligen Teckplätzle erinnert an die Kolonie Ostheim mit seinen 1267 Wohnungen in 383 Häusern (laut Inschrift erbaut "1892 bis 1903", leicht abweichend von Essers Buch).

Essers Roman ist ein betörendes literarisches Monument der Zeitgeschichte, gewidmet unter anderem Wolfgang Kiwus, einem klassisch ausgebildeten Musiker, experimentellen Künstler und Pionier der Computerkunst. Er war einer der wenigen Charakterköpfe Stuttgarts. Aktionist, Denker, Arbeiter. Am 17. Januar dieses Jahres ist er mit 81 Jahren gestorben. An einem wie Kiwus kommt der Stadtspaziergänger nicht vorbei. Falls doch, ist er coronamüde und kann weg.


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