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Auf der Straße

Auf die Straße!

Auf der Straße: Auf die Straße!
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Die Dunkelheit des frühen Abends nimmt unsere Stadt früher in Beschlag als jede andere. Ein verregneter Januartag, ich gehe durch eine Straße, deren Name mich neugierig gemacht hat. Seit 1846 heißt sie Seelbergstraße, benannt nach einer Gegend, in der einst Hungerleider im sogenannten Seelhaus Unterkunft fanden. Im Gegenzug mussten die armen Teufel für die Seelen der reichen Stifter beten. Die hatten es nötig.

Im Fall Seelbergstraße könnte man von einer Ladenmeile sprechen, von einer kunterbunten Verlockungsroute, wie man sie nur noch selten findet. In dieser Straße gibt es einen Schuhladen namens Schuh Mann, eine Metzgerei, einen Henpoint-Imbiss mit Federvieh vom Grill, eine Dönerbude mit der zukunftsweisenden Aufschrift "Schnellrestaurant", ein Geschäft für Brautmode und Maßanfertigungen, einen Fotoladen, einen Kofferladen, ein Nagelstudio (Happy Nails, American Style), eine Bankfiliale, eine Fahrschule, einen Gemüsemarkt, eine Apotheke, einen Computer-Upgrade-Service, ein Toilettenhäuschen. Und kaum zu glauben: Eine Weile drücke ich mir die Nase platt am Schaufenster eines ehrbaren Hutgeschäfts. Bravo, Cannstatt.

In dieser Straße kann es dir leicht passieren, in der Dämmerung so viel Geld zu verjubeln, dass du den Rest deines Lebens in einem Seelhaus für die Betuchten beten musst. Seit jeher bin ich scharf auf Dinge, die die Welt nicht braucht. Zum Glück sind reichlich Menschen unterwegs, die mich vorwärts schieben, die nicht aussehen wie Kartoffeln aus der Ernte des dümmsten Bauern.

Mein Herumgehen in der Hoffnung auf das Irgendwas im Nichts hat naturgemäß ein seelisches Motiv. Man nennt es Melancholie. Neulich erst hat mir eine Freundin Gedichte des amerikanischen Lyrikers Robert Frost mit der Bemerkung geschickt, die müssten mir gefallen. Eins beginnt so: "Ich war so einer, der die Nacht gekannt. / Ich ging im Regen aus, bei Regen heim. / Ich ging am letzten Stadtlicht noch vorbei." Und manchmal, füge ich hinzu, war auch die letzte Dorfkerze längst erloschen. Deshalb ist mir in Stuttgart nie die Erleuchtung gekommen.

Nach der exquisiten Kleinkrämerstrecke erhebt sich, als wäre der Markt nie gesättigt, ein Einkaufs- und Bürozentrum in den Himmel, eine dieser Glas- und Betonkeulen, die man bei ihrer Eröffnung 2006 vermutlich als "modern" bezeichnet hat wie früher die Plastiktüte. Das Konsummonster steht mitten in Cannstatt, dessen Etikettierung "Bad" ich hartnäckig ignoriere, weil sie einst von den Nazis verordnet wurde. Leute, die in brauner Seelenbrühe schwimmen, haben kein Recht auf unser Mineralwasser in der Stadt.

Wenn der Mitte-Mob im Karree springt

Der Cannstatter Shopping-Komplex heißt "Carré", ein nicht seltener Name im Immobiliengewerbe. In Stuttgart, das weniger städtisch riecht als Cannstatt, kennen wir das "Kronen Carré", das "Tübinger Carré", das "Bülow Carré". Mich erinnert das an eine Redewendung, die bedauerlicherweise ausgestorben ist. Es war mal guter Brauch, jemandem nachzusagen, er springe im Karree. Wenn du im Karree springst, bist du voll von der Rolle: aufgebracht, zornig, wütend. Sehe ich heute Leute, die außer sich sind, springen sie nicht im Karree, sondern in der Regel wegen einer frischen Delle um ihre Karre herum.

Ein Karree oder Carré ist ein Viereck ohne Anspruch auf Exklusivität. Eine andere Redewendung aus der höheren Geometrie besagt, der Mensch springe vor Wut im Dreieck. Dies hat mit einer Resozialisierungs-Methode zu tun, die Friedrich Wilhelm IV. Mitte des 19. Jahrhunderts einführte: Er ließ in Berlin einen Knast mit lauter Einzelzellen bauen, um Kontakte zwischen den Gefangenen zu verhindern. Statt eines runden Hofs gab es, wohl nach dem Vorbild royaler Tortenstücke, einzelne eckige "Spazierhöfe", um schlechte gegenseitige Einflüsse erst gar nicht zuzulassen. So kam es regelmäßig vor, dass einer ausrastete und wie verrückt im Dreieck sprang. Fucking Vibes.

Spazierhöfe wären vor allem heute eine gute Sache. Sie gäben Schwurblern, Verschwörern & Nazis die Chance, vor lauter Wut über unsere "Diktatur" in Spazierhöfen im Dreieck zu springen. So wären auch ihre ekligen Träger von Judenstern-Imitaten aus der Nazi-Zeit zackig dort, wo sie hingehören: hinter Schloss und Riegel.

Aus dieser Ecke kommt die Nachricht, dass unser überflüssiger Verfassungsschutz laut dpa neue Staatsfeinde entdeckt hat, die sich nicht mehr "den bisherigen Kategorien wie Rechts- oder Linksextremismus" zuordnen lassen. Sie verbinde keine Ideologie, sondern "die Verachtung des demokratischen Rechtsstaats und seiner Repräsentanten". Die Hufeisentheorie der Geschichtsfälscher muss demnach zwingend ergänzt werden.

Für das neue Kaliber des Public Enemy fällt mir leider kein passender Begriff ein. "Schwurbelextremist" wäre die Banalisierung des Bösen, und die hufeisengerechte, historisch korrekte Bezeichnung "Mitte-Extremist" fänden vermutlich die regierenden Mittigen nicht so passend. Ich schlage deshalb vor, einen Wettbewerb zur Wortfindung auszuschreiben. Sicher ist schon mal, dass die Neue Rechte den noch nicht sezierten und kategorisierten Staatsfeind mit offenen Armen empfängt, ganz egal wie diese umstürzlerische Frankenstein-Figur am Ende heißen wird. Deshalb ist es jetzt dringend nötig, gegen diese verschwörerische Zusammenrottung etwas zu tun, so wahr wie diese Kolumne "Auf der Straße" heißt. Es ist erbärmlich, wenn die, die überall ihr schmuckes Schildchen "Wir sind mehr" hochhalten, zuschauen, wie rechte und verschwörerische Anführer die Straßen vereinnahmen. Wie diese Sippschaft die Probleme und Ängste in der Pandemie genauso instrumentalisiert wie die Aggression entrückter Egoisten, die von "Freiheit" faseln.

Womöglich erwecke ich jetzt selber schon den Eindruck, im Karree zu springen. Nicht selten habe ich zuletzt gehört, wie schön es doch sei, zwischendurch mal eine Kolumne zu lesen, die nichts mit Corona zu tun habe. Wie aber soll ausgerechnet der Spaziergänger nichts mit dem Leben am Hut haben, wo er dem Leben doch überall begegnet. Ich kann nicht mit einer Maske vor den Augen auf dem Spazierhof im Dreieck springen, bis der Mob der Mitte auch noch das letzte Karree beherrscht.

Es sieht nicht gut aus. Die Pandemie ist, falls du am Leben bleibst, weder der Anfang noch das Ende von irgendwas. Du steckst, sage ich mir, in einem Zwischendrin wie in einem Stau voller Auspuffgifte, und du weißt nicht, wann und wie es weitergeht. Ein paar Dinge aber könnten verhindert werden, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich nichts Besseres zu erzählen habe als von Brautkleidern, Koffern und Hüten in Cannstatt, diesem Ort mit einer originelleren Seele als Stuttgart.

Aus meinem alten Seelenbergwerk, sage ich mir, müsste doch ein wenig mehr herauszuholen sein als ein schönes fremdes Gedicht. Womöglich aber ist mein letzter Humor durch den Schacht gefallen. So muss ich wohl die Koffer packen, meinen Hut nehmen und mich mit einer Braut aus Cannstatt aus dem Staub machen.


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