Solche Gefühlsregungen kann ich mir nicht leisten, seit ich als Dorf-Cowboy mit Hang zu Hollywood-Filmen Richard Harris als "Ein Mann, den sie Pferd nannten" verinnerlicht habe (daher meine Salbe).
Unser Oberschultes wiederum ist seit seinem Stallwechsel von Backnang nach Stuttgart fortwährend in einer rührend-komischen Nummer zu sehen, die mich an den Namen einer Popkapelle der Achtziger erinnert: Frankie goes to Hollywood. Das Posing, das er – umrahmt von den Event-Gewändern seiner Gemahlin – bei internationalen Großereignissen wie Stuttgarter Varietéshows oder Kneipeneröffnungen für die C-Promi-Paparazzi leistet, ist erste Sahne. Da erst begreife ich, was mit einem unterirdischen Werbeslogan im Breuninger-Schaufenster gemeint sein könnte: "Wünsche werden Warenhaus."
Und nachdem du die Nopper-Klan-Fotos im Internet gesehen hast, verstehst du den Oberschultes, wenn er Journalisten sagt, er könne sich nicht "25 Stunden am Tag" um die Pandemie kümmern. Immerhin reagierte seine Verwaltung sekundenschnell auf die Folgen seines Weihnachtsmarkt-Managements mit christlicher Gnade: "Die Stadt Stuttgart wird keine Standgebühren für die Stände verlangen, die auf dem vorgesehenen Areal für den Weihnachtsmarkt aufgebaut wurden."
Auch ich bin durch das tote Budenquartier gestiefelt, muss aber zugeben, dass mich in Stuttgart der Anblick einer Geisterstadt kaum noch bewegt. Das hat auch ein wenig mit der Seuche zu tun, die mich nicht nur in Lockdowns zum Training des Alleinseins zwingt. Dann reise ich, nahezu bewegungslos, in Büchern herum. In Julian Barnes Roman "Der Lärm der Zeit" über Schostakowitschs surreales Leben unter Stalin schnappe ich diese Redewendung auf: "Das Leben ist kein Spaziergang übers Feld." Richtig, Russe, entfährt es mir: Das Leben ist ein Spaziergang durch Stuttgart. Nur nicht so grausam.
Erst weiter hinten im Buch sagt uns der Autor, dass es sich bei dem Spaziergang-Zitat um die letzte Zeile von Pasternaks Gedicht "Hamlet" handelt – und die Zeile davor lautet: "Ich bin allein; alles um mich versinkt in Falschheit." Diese Worte persönlich zu nehmen wäre mit Blick auf die Geschichte auch dann anmaßend, wenn ich erlebe, wie Freundschaft zur Heuchelei verkommt. Wenn mir zum Heulen ist, lege ich Schostakowitschs Leningrad-Sinfonie auf um durchzuhalten. Viel lieber würde ich wie die Bühnenfigur Josef Hader breitbeinig und mit einem Glas in der Hand der Welt empfehlen: "Trinke, was klar ist / sage, was wahr ist / schnaksel, was da ist."
Das Alleinsein führt oft zu sinnlosem Umherschweifen in der Dunkelheit, sobald sich der Bewegungsdrang gemeldet hat. In meiner noch neuen Nachbarschaft am Kernerplatz, wo ich im Lockdown des versifften März 2021 gelandet bin, stehe ich vor dem Haus mit den Büros des Landesverbands der Schausteller und Marktleute Baden-Württemberg e. V.. Irgendwann muss ich mich hineintrauen und fragen, wie es um das Weinen steht. Ein paar Meter weiter, in der Kernerstraße 8, lese ich auf einem Schild, in diesem Gebäude, im damaligen Wirtshaus Zum Becher, sei 1893 der FV Stuttgart, der ältere der beiden Vorgängervereine des VfB, gegründet worden. Herrgott noch mal, altes Haus, sage ich: Hat das denn sein müssen? Fußball beim VfB?
2 Kommentare verfügbar
Güdemann
am 02.12.2021Schöne Jahresendzeitflügelfigurzeit wünscht
Cordula