Im Oktober waren die Straßen noch frei vom Saisonfinale-Blues. Nur der übliche Abgasrausch und hin und wieder ein dampfender Öko-Haufen aus den Auspuffrohren berittener Polizisten. Das Farbenspiel des Herbsts wurde selten von Regen und Stürmen gestört, sodass ich mit klaren Gedanken herumstiefeln konnte. Habe ich "klare Gedanken" gesagt? Die Psychologie kennt den Begriff der "gelockerten Assoziation", er beschreibt eine Zerfahrenheit des Denkens: unkontrollierte, ausufernde Gedankensprünge. Richtung schizo. In meinem Fall betrachte ich diese Störung als handelsüblichen Sprung in der Schüssel, einen Dachschaden, ohne den die meisten meiner Spaziergänger-Kolumnen nicht zustande kämen.
Dieser Tage habe ich mich beim Herumgehen in der Stadt gefragt, ob ich als Kind zuerst lesen oder schreiben gelernt habe. Auslöser dieser Frage war eine Tafel an einem Sex-Shop: "Beste Produktberatung! Mit anfassen!" Später habe ich mir von einer Pädagogin erklären lassen, vernünftig sei es, erst lesen zu lernen, weil es mehr Laune mache, wenn man schon lesen könne, was man gerade geschrieben habe. Ich musste ihr heftig widersprechen. Wäre ich nie in die Verlegenheit gekommen, mein eigenes Zeugs zu lesen, hätte ich mich mit dem Schreiben wesentlich leichter getan. Mir wäre, wenn ich den ausgelutschten Begriff noch mal ausspucken darf, reichlich Cringe erspart geblieben. Grundsätzlich sollte man das meiste Geschriebene nicht anfassen.
Als ich neulich in der Straßenbahn auf meinem Taschentelefon lesen musste, dass ein katholischer Verband "Gott" mit einem Sternchen als "Gott*" schreiben und anbeten wolle, dachte ich zunächst – assoziativ diszipliniert –, diese kleine Namensänderung gehe in Ordnung. Schließlich hat Gott recht viele Sternchen an den Himmel gehängt und damit unserer Schlagermusikindustrie ein ordentliches Auskommen beschert. "Schenk mir einen Stern", singt Andrea Berg.
Von Gottes Genderstern zum Stuttgarter Vatikan
Dann aber lockerte sich beim Anblick des besternten Gottes meine Assoziation und zwang mich, umgehend in die Straßenbahnlinie 1 umzusteigen: Eine innere Stimme befahl mir, wieder mal in den Vatikan zu reisen. Auf dem Weg zum Vatikan fährt die Straßenbahn am Cannstatter Uff-Kirchhof vorbei, wo neben dem Freiheitsdichter Ferdinand Freiligrath und dem Komödianten Oscar Heiler auch der Automobil-Gott Gottlieb Daimler liegt, ein Mann, der sich bekanntlich lange vor dem Gendern sein Sternchen selbst verpasst hat.
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