Schon klar: Den neuen Koalitionsvertrag mit "Strg F" nach Schlagworten zu durchsuchen und seinen Inhalt danach zu bewerten, wie oft das gesuchte Wort vorkommt, ist manchmal nicht die allercleverste Art, Kritik zu üben. Wenn man zum Beispiel "Gema" im Koalitionsvertrag sucht, könnte man sich tagelang darüber aufregen, dass sich die Ampelkoalition einen Feuchten dafür interessiert, wie kleine Vorstadtpunks mit Formularen schikaniert werden, obwohl sie keinen Bock haben, mit ihrer Band in die "Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte" einzutreten. Kein einziges Mal steht das Wort "Gema" im Koalitionsvertrag! Ja okay, ist halt so eine Sache mit der Relevanz. Nur weil jemand persönlich von einem Thema angezwiebelt ist, heißt das noch lange nicht, dass sich die Politik drum scheren muss.
Das wäre ja genauso, wie wenn man Zwangsprostitution menschenfeindlich findet und von der Regierung verlangt, dass sie endlich was dagegen unternehmen soll. Zu viel verlangt? Immerhin hat sie sich "Mehr Fortschritt wagen" auf die Fahnen geschrieben und verspricht mit einem sozialen Demokraten an der Spitze und einer grünen Powerfrau als Kanzlerin der Herzen alles "ganz anders" als die Regierungen davor zu machen. Aber gibt man "Prostitution" oder "Zwangsprostitution" im Suchfeld ein, wird klar: Die gelb-grünen Selfie-Schlümpfe um Papa Scholz juckt das Thema nicht sonderlich.
Kein einziges Mal tauchen die Wörter auf 178 Seiten Regierungsplan auf. Nicht ein konkreter Hinweis darauf, dass sie es wagt, fortschrittlich gegen die sexuelle Ausbeutung von Abertausenden Frauen im Riesenpuff Deutschland vorzugehen und Sexkauf mit dem "Nordischen Modell" zu verbieten: Ein Prostitutionsverbot, das Freier bestraft, während Prostituierte straffrei bleiben. So muss niemand mehr, der nicht will. Und jeder der will, kann trotzdem. Ist ja nämlich mittlerweile so: Neben der Prostitution gibt es die sogenannte "Sexarbeit" – ein neoliberaler Terminus, der kapitalistische Selbstausbeutung bis ins Schlafzimmer propagiert. Während ersteres größtenteils Zwangsprostitution ist und – wie zum Beispiel aktuell die Fotoausstellung "gesichtslos – Frauen in der Prostitution" im Mannheimer Museum Weltkulturen zeigt – von Alternativlosigkeit, Erniedrigung, Gewalt und sexueller Ausbeutung geprägt ist, will die "Sexarbeit" selbstbestimmt und freiwillig sein.
Zwangsprostitution interessiert die Ampel wenig
Klar: Niemand hat zu bestimmen, was Frauen mit ihren Körpern anstellen wollen. Doch obwohl es nur ein kleiner Prozentsatz an Frauen ist, die ihre Körper gerne zur sexuellen Benutzung verkaufen, prägen und verzerren ihre bekanntesten Repräsentantinnen das Bild von "der Prostitution" in Talkshows und Medienberichten. Durch dieses Prostitution-Sexwork-Bias, mit der eine laute Minderheit das Leid der unsichtbaren Mehrheit übertönt, wundert es dann auch nicht, dass lediglich an zwei Stellen im Koalitionsvertrag vage formuliert wird: "Den Kampf gegen Menschenhandel intensivieren wir" (S. 107). Ja cool, aber was genau heißt das? Außerdem wolle man "Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung mit einem Nationalen Aktionsplan und einer unabhängigen Monitoringstelle zur Umsetzung der Europaratskonvention" (S. 115) bekämpfen. Dass es diese Konvention gegen Menschenhandel bereits seit 2005 gibt und Deutschland sie als eine der letzten Staaten erst 2012 unterzeichnet hat – geschenkt. Sind doch alle bis auf die Prostituierten happy: Security-Firmen, Bordell-BetreiberInnen, Freier, VermieterInnen von Stundenzimmern, Wäsche- und Reinigungsunternehmen, der Staat und das gute Gewissen der Gesellschaft. Alle wissen: "Sexwork is work". Wie die Arbeit eines Physiotherapeuten oder Pflegers.
Den suchen sich die Menschen zwar nicht nach Aussehen, Alter und Schwanzlänge aus. Trotzdem ist "die Prostitution" als "ganz normalen Arbeit" das Trendnarrativ der modernen Gesellschaft und Politik. Die verdrängt aus falsch verstandenem Liberalismus, internalisiertem Frauenhass und Affirmation kapitalistischer Genitalverwertung komplett, dass laut Statistischem Bundesamt schon allein 80 Prozent der 40.400 gemeldeten (!) Prostituierten und Sexworkern marginalisierte, vulnerable Migrantinnen aus den ärmsten Ländern Europas sind, die über Mittelsmänner zu Sexsklavinnen gemacht werden und schutzlos am äußersten Rand der Gesellschaft untergehen.
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Mara Huschke
am 09.12.2021