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Stille Krise der Menschenrechte

Stille Krise der Menschenrechte
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Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird in wenigen Tagen 70 Jahre alt. Sie scheint jedoch nicht relevant, wenn es um den Umgang mit Geflüchteten geht. Mit seiner egoistischen Politik schafft Europa unablässig neue Fluchtursachen, statt sie zu beseitigen, kritisiert unser Autor.

Als es wieder einmal um die Diskussion über Flüchtlinge ging, sagte ein Bekannter zu mir: "Du bist unser Anwalt hier. Sag ihnen, was sie mit uns machen." In solchen Situationen komme ich mir ziemlich privilegiert vor (das passiert nicht so oft in Europa).

Als Privilegierter über Unterprivilegierte zu schreiben, funktioniert nur, wenn man die Perspektive wechselt, also die Welt mit den Augen der Betroffenen betrachtet. Deshalb möchte ich mit einer Geschichte beginnen, die für viele Geschichten von Flucht aus Afrika steht. Sie ist Gegenstand eines Romanprojektes, an dem ein Freund arbeitet. Es ist die Geschichte eines kleinen Dorfes in meiner Heimat, Senegal.

Vor fünf Jahren taten sich 48 Jugendliche und junge Männer zusammen und beschlossen, ein Boot zu bauen. Sie kamen alle aus demselben Fischerdorf am Atlantik und wollten sich nicht auf die einschlägigen Seelenverkäufer verlassen. Nach monatelanger Arbeit stachen sie in See, Richtung Spanien. Am Strand war das ganze Dorf versammelt, denn jede Familie hatte mindestens ein Mitglied unter der Besatzung. Das Boot kam in Europa nie an. In dem Dorf wurde kein Fest mehr gefeiert: keine Hochzeit, keine Taufe, nichts, was Anlass zur Freude ist. Es ist ein traumatisiertes Dorf.

Interessanter als die Frage, was sie in Europa wollten, ist die Frage, wie sie auf die Idee kamen: Warum dieser kollektive Aufbruch?

Einige Jahre zuvor hatte die EU Fangrechte für senegalesische Gewässer gekauft. Was das für die einheimischen Fischer bedeutet, kann man an folgenden Zahlen sehen: Der Fang eines europäischen Schiffes entspricht dem, was ein senegalesischer Fischer fängt, wenn er jeden Tag mit seinem Boot rausfährt, und das 55 Jahre lang. Die Existenzgrundlage ganzer Dörfer wurde mit diesem Abkommen zerstört. Ähnliches erleben die lokalen Bauern und Viehzüchter.

Festung Europa statt nachhaltiger Migrationspolitik

Würden die europäischen Entscheidungsträger ihre Politik ändern, wenn sie wüssten, welche Folgen sie hat? Das fragte ich mich, als der Autor mir von seinen Motiven erzählte. Denn er sagte: "Ich möchte diese Geschichte erzählen, damit die Europäer verstehen, warum die afrikanische Jugend ihr Leben aufs Spiel setzt." 

Angesichts der Stellungnahmen europäischer Entscheidungsträger ist zu bezweifeln, dass ihre Kenntnis der Folgen ihrer Politik etwas ändern würde. Denn seit Jahrzehnten arbeiten europäische Regierungen an der Konsolidierung der Festung Europa. Mancher Politiker schreckt dabei nicht einmal vor menschenverachtenden Stellungnahmen zurück. So gab der frühere deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich die Losung aus, "problematische Menschenströme aus fremden Kulturen [zu] verhindern". In den 1990er Jahren warnte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber vor einer "Durchrassung der deutschen Gesellschaft". Bekanntlich wurde das Grundrecht auf Asyl, das aus den Erfahrungen der Unmenschlichkeit im vergangenen Jahrhundert entstand, zu dieser Zeit praktisch abgeschafft.

In den letzten Jahren sind die Hemmungen vor rassistischen Äußerungen spürbar gesunken. Rechtspopulisten sind im Aufwind. Es sind deutliche Zeichen für eine Stimmung, die Afrikaner am stärksten zu spüren bekommen. Nicht zufällig ist von den Antragstellern bewilligter Asylbescheide nur jeder tausendste ein Afrikaner.

Den Versuch, das Bewusstsein für diese Fehlentwicklungen zu wecken, unternehmen immer mehr Betroffene. Es sind Wortmeldungen aus den Rändern der privilegierten Gesellschaften, die auf ein zentrales Problem hinweisen: die "stille Krise der Menschenrechte", wie der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan es nannte, oder konkreter: die krankhaften Züge der Weltgesellschaft.

Kein Afrikaner würde seinen Kontinent verlassen, wenn er nicht müsste

Ein Buch darüber heißt "Der Traum vom Leben". Es ist der Bericht eines deutschen Journalisten über die Odyssee afrikanischer Flüchtlinge. In diesem Buch erzählen Betroffene von ihren Erlebnissen, ihren Motiven und ihren Wünschen. Sie äußern sich auch zur Haltung Europas und stellen viele Fragen. So fragt die 23-jährige Joy, die zur Prostitution gezwungen wurde: "Glaubt tatsächlich irgendjemand in Europa, dass auch nur ein Afrikaner seinen Kontinent verlassen würde, wenn er nicht müsste?"

Die interessanteste Begegnung des Journalisten ist die mit einer Gruppe von Flüchtlingen im algerisch-marokkanischen Grenzgebiet. In einem Canyon haben sich 160 Leidensgefährten zusammengetan und einen provisorischen Staat gegründet. Sie nennen ihn The Valley, das Tal.

"Die meisten kommen aus Ghana und die anderen aus Mali, Senegal, Gambia, Kamerun, Nigeria, Kongo, Burkina Faso und Elfenbeinküste. Sie hausen in Hütten aus Pappe ... The Valley hat einen Fußballplatz, zwar löchrig und holprig, aber mit zwei Toren; es hat einen Präsidenten, eine Polizei, ein Gefängnis, Soldaten, ein Sekretariat, einen Justiz- und einen Verteidigungsminister, eine Leibwache für die, die hinausgeschickt werden, um Wasser zu holen."

In diesem Tal der Verzweifelten haben die Leute wieder ein bisschen Würde und eine Aufgabe. Im Gespräch mit dem Journalisten erzählt der Präsident: "Weggegangen bin ich, weil ich das Visum, das ich beantragt hatte, nicht bekam – ich wollte mein Leben trotzdem selbst planen, wollte etwas erreichen. Ich bin Computeringenieur und Video- und Fototechniker. Wenn ich Arbeitsmaterial und auch nur winzige Aufträge gehabt hätte, wäre ich geblieben, aber es gab nichts. Gar nichts. Und ich wollte einen Ort erreichen, wo ich überleben kann. Ist das zu viel verlangt? Wo ich arbeiten und ein bisschen Geld verdienen kann. Das ist doch nicht größenwahnsinnig, oder?"

Nach einem Hinweis auf die Abkommen zwischen der EU und den nordafrikanischen Staaten, die zur brutalen Jagd auf Flüchtlinge führen, schließt der Präsident mit folgenden Worten: "Zwei Dinge sage ich euch. Erstens: Die Weißen haben Afrika als illegale Einwanderer betreten. Oder hatte irgendein Sklavenjäger ein Visum? Zweitens: Die afrikanische Odyssee wird niemals gestoppt werden. Wenn ihr uns stoppen wollt, dann baut eine Mauer mitten im Meer, und baut sie bis hinauf in den Himmel."

Die zentrale Frage bringt der 32-jährige Opoku Agyema auf den Punkt: "Unser Problem ist euer Problem und ein Problem aller; es ist ein Problem der Menschheit. Aber ihr Europäer wollt eure schöne Welt genießen und euch um nichts kümmern; das geht bloß nicht mehr, weil anderswo Arbeit zu billig geworden ist und weil es zu viel Armut gibt. Die Welt ist außer Rand und Band, und ihr Europäer wollt Zeit gewinnen, so lange wie möglich euer Leben so zu bewahren, wie es ist."

Der Innenminister diskreditiert Hilfesuchende

"Von denjenigen, die gegen die Flüchtlinge wettern, würden wahrscheinlich 80 Prozent Flüchtlinge in der eigenen Familie finden, wenn sie drei Generationen zurückblickten!", kommentierte im Jahr 2015 der Freiburger Trainer Christian Streich die hetzerischen Äußerungen pöbelnder Massen. Dieser kritische Blick auf die drängende Flüchtlingsproblematik kontrastiert aufs Eklatanteste mit der Haltung des damals zuständigen Innenministers Thomas de Maizière.

Von der angeblich mangelnden "Dankbarkeit", den "sich prügelnden Asylbewerbern" bis zur fahrlässigen Bemerkung über Flüchtlinge, "die Hunderte von Kilometern mit dem Taxi fahren" würden, hat er kaum etwas ausgelassen, was dazu geeignet wäre, die Hilfesuchenden zu diskreditieren. Sie alle sind Hilfesuchende, ob man ihre Not anerkennen will oder nicht!

Wollte man sich auf das Argumentationsniveau des Ministers begeben, so könnte man Folgendes anmerken: Viele der Verzweifelten, die im Mittelmeer ihr Leben lassen, sind Nachfahren von Männern, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben riskiert bzw. gelassen haben, um Europa von der Nazi-Herrschaft zu befreien. Wie viel Dankbarkeit dafür haben sie von deutscher beziehungsweise europäischer Seite erhalten? Würden sich Deutsche nicht prügeln, wenn man sie zu Hunderten auf engstem Raum zusammenpferchen würde? Dass sie dazu nicht einmal solch eine Stresssituation brauchen, kann man jedes Wochenende bei Fußballspielen beobachten. Wer sagt denn, dass jemand, der Hilfe braucht, bettelarm sein muss? Also nicht mit dem Taxi fahren können darf? Es ist deprimierend, wie Volksvertreter angesichts greifbarer Not von Gipfel zu Gipfel rennen und ein Trauerspiel der zynischsten Art vorführen.

Statt unbedachter – um nicht zu sagen demagogischer – Bemerkungen, sollten die Entscheidungsträger endlich einsehen, dass die Abertausenden, die mit Nachdruck an die Türen Europas klopfen, vor Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen geflohen sind: vor politischer oder religiöser Verfolgung; vor Waffen, die oft aus Europa kommen; und nicht zuletzt vor der Gewalt, die der weltbeherrschenden Wirtschaftspolitik innewohnt: Das gilt für die rücksichtslose Spekulation auf Lebensmittel ebenso wie für das hemmungslose Preisdumping, etwa in Afrika, durch den Export von Milchüberschüssen und Ausschüssen wie Hühnerrücken oder Schweinepfoten, die die Produzenten in den benachteiligten Ländern in den Ruin treiben.

Dass die Gewalt der bestehenden Verhältnisse tödlich ist, zeigen nicht nur Katastrophen wie eine eingestürzte Textilfabrik in Bangladesch, sondern auch der Tod von Zigtausenden, die täglich in brutaler Stille an Hunger und seinen Folgen sterben.

Gegen die Panik vor Fremden, die von verschiedener Seite verbreitet wird, sei daran erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit an die drei Millionen Russlanddeutsche aufgenommen wurden, die heute nicht mehr aus Deutschland wegzudenken sind. Dass für diese Migranten ganze Siedlungen gebaut wurden, offenbart den politischen Unwillen, eine ähnliche Haltung gegenüber den ebenso oder noch mehr gebeutelten Syrern, Afghanen, Afrikanern einzunehmen. Warum eigentlich? Nicht zufällig fragte die Festrednerin der diesjährigen Frankfurter Buchmesse Chimamanda Ngozi Adichie, ob der Grund für die hysterische Diskussion die Flüchtlinge seien oder vielmehr, dass sie Moslems seien beziehungsweise eine dunkle Hautfarbe hätten.

Fluchtursachen bekämpfen? Leider nur hohle Prosa

Auf die Frage nach der Lösung für das Flüchtlingsproblem heißt es mittlerweile allenthalben: Wir müssen die Herkunftsländer unterstützen! Wir müssen die Ursachen von Flucht bekämpfen! Beim UN-Entwicklungsgipfel im Juli 2015 in Addis Abeba konnte man feststellen, wie ernst die westlichen Regierungen diese Erklärung meinen: "kompromisslos und mit allen Mitteln der Einschüchterung" beharrten die Vertreter der reichen Länder auf dem Status quo und lehnten nahezu alle Vorschläge der krisengeschüttelten Länder ab, berichtete der Journalist Bernd Pickert. Und angesichts der unübersehbaren Vernachlässigung des "öffentlichen Wohls" zugunsten der "Gewinnmaximierungsinteressen transnationaler Konzerne" fordert er: "Spätestens wenn das nächste Mal ein europäischer Regierungspolitiker daherredet, man könne nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, man solle besser die Fluchtursachen angehen, gehört ihm das Abschlussdokument von Addis Abeba so lange um die Ohren gehauen, bis es richtig wehtut."

Statt einer Rückbesinnung auf humanistische Werte werden Seenotretter und Hilfsorganisationen diffamiert und Notleidende verunglimpft: Ohne jede Hemmung sprechen Unionspolitiker von "Asyl-Shuttle" oder "Asyl-Tourismus" und verhelfen so politischen Gruppierungen, die nur von Ausgrenzung leben, zu schockierenden Wahlerfolgen.

Wie unverantwortlich und entlarvend die "Das Boot ist voll"-Debatte ist, ist dem Parteifreund des damaligen Ministers de Maizière, Kurt Biedenkopf, aufgestoßen: "Immerhin haben wir 500 Jahre die Welt regiert als Europäer, haben überall ausgebeutet, wo wir hingekommen sind." Die Verbreitung von Panik bedeutet deshalb eine perfide Untergrabung der kulturellen Erneuerung, die eine menschliche Weltgesellschaft erfordert. "In der Tat ist auf der Grundlage einer universalistischen Ethik nicht ohne weiteres einzusehen, warum der Sozialstaat auf die eigene Nation beschränkt sein sollte." So bringt das der deutsche Philosoph Vittorio Hösle auf den Punkt. Mit anderen Worten: Ob Flüchtlinge weiterhin in großer Zahl nach Europa kommen, hängt davon ab, ob Europa seine egoistische Politik weiterbetreibt. Dass hinter jeder Flucht der Drang nach würdigem Leben, Sicherheit und Freiheit steht, ist aus der Geschichte der westlichen Welt bestens bekannt.

Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem Buch "Todesursache: Flucht", herausgegeben von Kristina Milz und Anja Tuckermann, das am 1. Dezember beim Berliner Hirnkost-Verlag erschien (400 S., 3,99 Euro). Zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember werden darin eine Liste der belegten Fälle der mehr als 35 000 Menschen, die in den letzten 25 Jahren auf dem Weg nach oder in Europa ums Leben gekommen sind, dokumentiert, sowie einzelne der Toten porträtiert. Daneben versammelt der Band Beiträge von Heribert Prantl, Heinrich Bedford-Strohm, Heike Martin, Rolf Gössner und anderen. Das Buch kann über diesen Link bestellt werden.

Moustapha Diallo ist Literaturwissenschaftler, Publizist und Übersetzer. Seine Veröffentlichungen beschäftigen sich mit den Themen Interkulturalität, Postkoloniale Studien, Afrika in der deutschen Literatur sowie Deutschunterricht und Germanistik auf dem afrikanischen Kontinent.


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