Wie es das Schicksal oder der Teufel wollte, musste ich Anfang März 2021 in die Nähe der Friedenskirche, der Friedensstraße und des Friedensplatzes ziehen. Von Anfang an war mir dieses Friedensbombardement in meiner Umgebung nicht geheuer. Ein Lockdown in der Pandemie beschränkte in jenen Tagen die Bewegungsfreiheit, während sich auf den Straßen und im Internet eine Bewegung des Unmuts mit Verschwörern und Rechten formierte. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits ein Buch mit dem Titel "Pandemie – Die Welt im Corona-Krieg".
Ich bin eine Art Berufspessimist. Vielleicht könnte man auch sagen: ein Feigling, der vorsätzlich immer vom schlimmsten Fall ausgeht in der heimlichen Hoffnung, wenn er nur schwarz genug sehe, könne es womöglich nicht gar so schlimm kommen. Dann erreichte mich, keinen Pistolenschuss von Friedenskirche, Friedensstraße und Friedensplatz entfernt, die Nachricht vom Überfall der russischen Armee auf die Ukraine. Putins Krieg und Corona war kein Thema mehr, auch wenn sich in meinem Bekanntenkreis immer mehr infizierten.
Kriegsbeginn war der 24. Februar, und am Sonntag darauf verbreitete Stuttgarts Oberbürgermeister bei einer Stuttgarter Solidaritätskundgebung für die Ukraine auf dem Schlossplatz sein Bulletin: "Seit Donnerstag stehen wir alle unter Schock, ja geradezu unter Schockstarre." Dieser an sich alarmierende Zustand konnte ihn freilich nicht daran hindern, unter dem Beifall des Straßenpublikums weitere Sätze aufzusagen, die in der kardiologischen Diagnose mündeten: "Unsere Herzen sind blau-gelb gefärbt." Keine Woche später verlor er dann bei der nächsten Aktion unter freiem Himmel vollends die Orientierung und skandierte ohne Rücksicht auf Geburtsort, Passport und Geschlecht: "Wir sind alle Ukrainer."
Tatsächlich war da angesichts der Katastrophe auch schon jede bewusst gewählte und intelligentere Wortlosigkeit gefährlich verdächtig. In den sozialen Medien wurden Leute als Putin-Versteher angemacht, weil sie nicht deutlich Position bezogen, etwa mit der strategisch wirkungsmächtigen Parole: "Fuck Putin". Der Russe an sich, so scheint es hierzulande, steht nicht länger vor der Tür, er ist weg vom Fenster und wird in Sippenhaftung genommen.
Mitten in dieser Wut- und Sündenbockstimmung kam mir ein Zitat in den Sinn, das ich am Ende von Stefan Gärtners Buch "Terrorsprache – Aus dem Wörterbuch des modernen Unmenschen" gelesen habe: "Die wenigen, die sich auskennen, wissen alles. Die anderen sind blind und taub" (aus einem Brief von Joseph Roth an Stefan Zweig, 9. Oktober 1933). Im erwähnten Schlusskapitel seziert Gärnter die modische Phrase "Am Ende des Tages". Die passt in die gegenwärtige Phase wie der Arsch auf den Eimer, so wahr wie das Ende aller Tage in greifbare Nähe rückt.
Und plötzlich: fast Weltspitze beim Wehretat
Im finalen Stadium meines Berufspessimismus begegnete mir dann in einem anderen Buch dieser Satz: "Und irgendwo in weiten Fernen der Geschichte senkte sich auf Europa die Wahrheit herab, dass das Morgen die Pläne der Gegenwart zunichte machen werde." Er stammt nicht, wie man vermuten könnte, von einem unserer Leitartikler, der sich auskennt, sondern aus einem Roman, den ich auf einmal wieder lesen wollte, als könnte er wie ein Serum meine nicht zwingend kriegsbedingte Schockstarre im Hirn vertreiben. Ich spürte ein seltsames Verlangen, das ich mir nicht genau erklären kann, eine Endzeitlust, als müsste ich nach langer Abstinenz schnell noch eine Zigarre rauchen, nur um zuzusehen, wie der letzte Rauch aufzieht und sich in Luft auflöst.
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Ioanna Avramidou
am 09.03.2022