Ich bin Rentner. Es wäre also mein gutes Recht, dem Anfang einer Kurzgeschichte Grace Paleys zu folgen: "Ob ich früh oder spät aufstehe, spielt keine Rolle, der Tag läuft mir davon. Sommer oder Winter, ob die Bäume Dämmerlicht oder harte Schatten werfen – vor Mittag futtere ich meine Rice Krispies nie."
Die amerikanische Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin hat diese Sätze in den Fünfzigerjahren geschrieben, in der Zeit, als ich geboren wurde (bin mir nicht sicher, ob ich später jemals Rice Krispies gefuttert habe). Sicher ist, dass auch mir der Tag davonläuft, obwohl ich Tag für Tag früh aufstehe. Frühaufsteher bin ich aus schlechtem Gewissen. Früher lief der Tag nicht mir, sondern ich dem Tag davon. Dazu musste ich mich so gut wie nicht bewegen. Es genügte die Choreografie, sich auf einen Barhocker zu setzen ohne herunterzufallen. Bei gut gedimmtem Licht spielte es keinerlei Rolle, ob draußen die Bäume Dämmerlicht oder harte Schatten warfen.
Irgendwann aber, lange vor der heutigen Verschwörungspest, hörte ich eine Stimme im Kopf, die mich fragte: Was eigentlich hast du in deinem Leben gemacht? Die Antwort, ich hätte den Balanceakt auf dem Barhocker beherrscht und Fußballspiele im Fernsehen mangels Rice Krispies nie ohne geröstete Erdnüsse verfolgt, erschien mir nicht überzeugend. Von diesem Tag an ging ich auf die Straße, die auch nicht in den Himmel führt.
Zukunft im Ohr oder nur Mailwerbung für Hörgeräte?
Inzwischen bin ich in einem Alter, in dem ich täglich Mail-Angebote von Hörgeräten bekomme. Einer der Werbeslogans könnte von den Marketing-Nasen der FDP stammen: "Die Zukunft im Ohr". Trotz einschlägiger Erfahrungen im verschärften Beschallungsbetrieb kann ich versichern, immer noch problemlos zu hören, was ich hören will. Meine gesicherte Zukunft im Ohr schützt mich allerdings nicht, täglich Reklame für weitere Krücken zu erhalten, etwa für Treppenlifte – nicht zu verwechseln mit den Deppenliften, den heutigen Nachfolgern der Karriereleiter. Diese Art Lifting wäre nicht mal dann erwähnenswert, würde es meine Spaziergänger-Ehre verletzen. Aber es bietet mir endlich Gelegenheit, aus Horst Tomayers grandiosen "German Poems" zu zitieren, aus dem wegweisenden Gedicht "Mein Freund im Alter":
"Der 'Lifta' Treppenlift, nach TÜV-Vorschrift gelinkt in das Geländer, soll mich tragen / Mit knapp 1 kmh hinauf zum Schopenhauerandachtswinkel und zur Sternenluke unterm Dach / Und in den Keller mit der Marx-und-Engels-Hausbar / Wo ich beim Schlehenschnaps, den Dialog mit den Gelegenheiten meiner Jugend, den verpaßten, nochmal, ein letztes Mal entfach / Wer freilich seine ganze Barschaft Zeit des Lebens / In die Bordelle trägt, vertrinkt, ja gar verkifft / Dem hilft im Alter, wenn er mit dem Arsche nicht mehr hochkommt / Kein 'Lifta' Treppenlift."
Den einzigartigen Dichter, Schauspieler und Satiriker Tomayer werde ich bis zum letzten Schlehenschnaps schon deshalb nicht vergessen, weil er mir mal eine böse Falle gestellt hat. Als wir 1996 nach dem Tod des Stuttgarter Journalisten und Gastwirts Fröhlich dessen Beerdigungsfeier vorbereiteten, bat ich Tomayer um eine kleine Trauerrede. Er arbeitete damals öfter für den SDR (heute SWR). Da er nicht zur Bestattung nach Stuttgart kommen konnte, versprach er, eine von ihm besprochene Kassette per Post zu schicken. Das Päckchen traf pünktlich am Tag der Beerdigung bei mir ein.
Der Paul, der eigentlich Hans Fröhlich hieß
Obwohl mir die Tage seinerzeit noch schneller als heute davonliefen, hörte ich eine Stimme im Kopf: Ich möge trotz Zeitnot die Kassette kurz testen. Ich legte sie in einen Rekorder und vernahm, vor Ehrfurcht ergriffen, Tomayers unverwechselbares Vortragskünstler-Organ. Seine ersten Worte klangen, sagen wir mal: erheiternd, was mich keineswegs irritierte. Nicht nur ein Komiker hat bei Bestattungen das Recht auf Humor, schon weil Humor weiß Gott eine todernste Sache ist.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!