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FDP und Freiheit

Das ganz große Missverständnis

FDP und Freiheit: Das ganz große Missverständnis
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Corona greift nicht nur die Atemwege an. Bei manchen auch die grauen Zellen. Schindluder getrieben wird vor allem mit dem Begriff Freiheit. Gerade von jenen, die ihn wie eine Monstranz vor sich hertragen. Sie sind wie GeisterfahrerInnen, die die Ausfahrt nicht finden.

Mit einem schrägen Freiheitsbegriff und einer arg verkürzten Auslegung von Eigenverantwortung treibt die FDP, der kleinste der drei Ampelkoalitionäre, nicht nur die ganze Bundesregierung vor sich her und die MinisterpräsidentInnen dazu, sondern die Mehrheit der Bevölkerung. Weniger aus Überzeugung, sondern eher zum eigenen Nutzen, geht diese Partei mit einem Menschenbild hausieren, dessen naiver Optimismus nicht erst durch die Pandemie erheblich beschädigt ist: Vernunft, Anstand und Rücksichtnahme auf die Unversehrtheit Dritter haben eben nicht ausgereicht, um Impf- und Booster-Quoten wie in anderen Ländern zu bewirken. 

Deshalb ist einfach Unfug, wenn Lukas Köhler, der bayrische FDP-Generalsekretär und promovierte Philosoph, in der Debatte zur Verabschiedung des neuen Infektionsschutzgesetzes behauptet, damit werde es den Menschen ermöglicht, "ihre eigene Verantwortung selbst in die Hand zu nehmen". Das sei "Urkern der liberalen Idee". Homo sapiens kann seine Verantwortung für sich selbst in die Hand nehmen, wenn er sich ein Bein gebrochen hat und dennoch auf Arztbesuch und Gips verzichtet. Beinbruch ist bekanntlich nicht ansteckend, Corona aber schon. Und deshalb ist eine Eigenverantwortung, die die von einem selbst ausgehende Gefahr für andere nicht wahrhaben will oder übersieht, halb blind.

Hau den Kretschmann

Gänzlich unaustreibbar ist in der Partei des Christian Lindner auch der Hang, der politischen Konkurrenz mit allerlei Freiheitsbeschwörungen am Zeug zu flicken. Vor allem im Stammland. Hans-Ulrich Rülke, Ex-Studienrat und Anführer der FDP im baden-württembergischen Landtag, zieht in der Pandemie gegen den grünen Ministerpräsidenten in einer Weise vom Leder, dass die Frage erlaubt sein muss, wie er sich denn in Winfried Kretschmann, mit dem er noch vor einem Jahr unbedingt regieren wollte, derart hat irren können. "Da will einer die parlamentarische Demokratie aushebeln und zu autoritären Strukturen zurückkehren", posaunt Rülke ins Land hinaus, als hätte er es mit einem schwäbischen Erdogan zu tun oder noch schlimmeren Gestalten der gepeinigten Gegenwart.

"Grundfalsch" findet er es, dass Kretschmann und seine grün-schwarze Landesregierung strengere Corona-Maßnahmen, vor allem Maskentragen und Testen, noch bis Ostern, also Mitte April beibehalten wollen. Und sogleich schickt er einen dieser flotten Sprüche hintendrein, die ihm immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit bescheren: "Verantwortliche Politik orientiert sich an Fakten, nicht am Osterhasen. Ansonsten entsteht der Eindruck, dass hier eine autoritäre Lust des Ministerpräsidenten an der Machtausübung über dem sachlich Notwendigen steht."

Sachlich notwendig wäre gewesen, sich mit einem Erste-Klasse-Begräbnis vom törichten Einfall des frischgebackenen Justizministers und Parteifreunds Marco Buschmann zu verabschieden, die Republik müsse/könne die Aufhebung der Corona-Maßnahmen mit einem triumphalen "freedom day" feiern. So sollen ein paar Pünktchen erobert werden am kommenden Sonntag bei der Landtagswahl an der Saar, für die die Demoskopie der FDP einen spannenden Abend prophezeit, weil der Einzug in den Landtag mal wieder alles  andere als sicher ist.

Ganz anders natürlich im Stammland, da sorgt Rülke weiter fürs Tremolo im Covid-Chor. Als hätten die über so viele Monate von FDP-PolitikerInnen als kaum noch erträglich geschmähten Einschränkungen Deutschland nicht eine Spitzenstellung eingebracht, die alle zur Mitmenschlichkeit Fähigen als Erfolg einordnen müssten: Pro Kopf ist die Todesrate ausgesprochen niedrig. In den vergangenen zwei Wochen sind hier auf eine Million Einwohner neun Menschen gestorben, im nicht nur von Liberalen so gern als Öffnungsvorbild gepriesenen Dänemark zehn Mal so viele.

Rülke will einen klaren Corona-Fahrplan

Zusammen mit zahlreichen Passanten, die die TV-Kanäle so gern bei Straßenumfragen zu Wort kommen lassen, beteiligt sich die FDP dazu vielstimmig an der erkennbar vernunftwidrigen Forderung, die Regierenden sollten dem Volk gefälligst mitteilen, wie sie sich den weiteren Gang der pandemischen Dinge vorstellen, im Politjargon: "Perspektivpläne erstellen." Da können noch so viele Fachleute bis hinauf zu Karl Lauterbach im Berliner Gesundheitsministerium darauf verweisen, dass heute kein Sterblicher weiß und wissen kann, was im nächsten Herbst und Winter auf uns zukommt – PopulistInnen, leider nicht nur von der AfD, rufen unbekümmert nach schlauen Wegweisern aus dem Tal der viel zu hohen Infektionszahlen und der Belastungen in Spitälern und Arztpraxen. O-Ton Rülke: "Es braucht jetzt einen klaren Fahrplan, wie man mit dem Virus leben kann."

Was tut's da zur Sache, dass im März 2022 mitnichten feststeht, ob und mit welchen Folgen demnächst Omikron oder ganz andere Varianten das Land ins Visier nehmen? Und dass im schlechten, aber keineswegs unwahrscheinlichen Fall ein jeglicher "Fahrplan, wie man mit dem Virus leben kann" fast so schnell im Papierkorb der Geschichte landen würde, wie Rülke dann seine nächste Generalattacke auf Kretschmann formuliert? Diesmal natürlich, weil der das Unheil nicht hat kommen sehen.

Bis dahin zehrt der Germanist mit der Doktorarbeit über "Gottesbild und Poetik bei Klopstock" von seinem bemerkenswerten Talent zu Haudraufrhetorik und Schwarz-Weiß-Malerei: "Einerseits die Impfzentren zu schließen und andererseits von einer allgemeinen Impfpflicht zu fabulieren, zeigt einmal mehr die volle Orientierungslosigkeit der Landesregierung in dieser Pandemie. Bei Grün-Schwarz geht es zu wie bei Hempels unterm Sofa." Eine Klage-Androhung schiebt Rülke vorsorglich schon mal nach.  

Wie wär's mit weniger Auto und weniger Fleisch?

Im Bundestag bemüht FDP-Generalsekretär Köhler einen, der in keinem blau-gelben Zettelkasten fehlen darf. Nein, nicht Berti Vogts ("Schnelles Fahren ist die kleine Freiheit, die der Deutsche noch hat. Die sollte man ihm lassen, denn er darf doch sonst nichts mehr"), sondern Montesquieu. Der französische Baron muss oft herhalten, wenn Liberale beweisen wollen, dass die anderen die GeisterfahrerInnen sind. "Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es nötig, kein Gesetz zu machen", zitiert der Bayer einmal mehr diesen Stehsatz aus dem Credo der Neoliberalen. Für die Verwirrung steht, dass er hinterher schiebt, die Formel komme diesmal aber gar nicht zur Anwendung, denn es sei ja ein neues Infektionsschutzgesetz gezimmert worden. Eines, dem der verantwortungsbewusste Umgang mit der Freiheit zu Grunde liege.

Seine Linken-Kollegin Susanne Ferschl bringt er damit so richtig auf die Palme. Wieder mal, klagt sie an, demonstriere die FDP ihr "krudes Verständnis von Freiheit", nämlich "Freiheit von Solidarität und Rücksicht". Denn wenn es wirklich Ehrensache wäre, von sich aus einsichtig durchs Leben zu gehen, könnten aufgeklärte Liberale auch mal damit Eindruck machen, dass sie Eigenverantwortung so buchstabieren, gerade in Zeiten wie diesen: viel weniger Lebensmittel vernichten, weniger Fleisch essen, damit auf deutschem Ackerland statt zu 60 Prozent Futtermittel für Tiere mehr Weizen für Afrika angebaut werden kann, nie wieder Wegwerfmode shoppen, vor allem nicht mehr über Autobahnen rasen, um weniger abhängig zu sein vom russischen Öl, und allüberall beitragen zur Senkung vom CO2-Ausstoß. Und Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) müsste dann die Diskussion über autofreie Sonntage gar nicht selber anstoßen, weil die FDP längst an der Spitze dieser Bewegung stünde.

Natürlich ist die Realität eine andere. Nochmal O-Ton Rülke: "Autofreie Sonntage wären reine Symbolpolitik aus den Siebziger Jahren. Auch Tempolimits können keinen entscheidenden Beitrag leisten. Man kommt in heutigen Zeiten mit solchen Jahrzehnte alten Methoden nicht besonders weit." Man vielleicht nicht, aber die Liberalen versuchen es immer und immer wieder – keineswegs ohne Erfolg. Bei der Bundestagswahl 2021 fuhr die Partei in Baden-Württemberg mehr als 900.000 Zweitstimmen ein.


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7 Kommentare verfügbar

  • tomás
    am 25.03.2022
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    Ich zitiere aus dem Artikel "Weniger aus Überzeugung, sondern eher zum eigenen Nutzen"

    Hm, ja. Das ist doch bei der FDP dasselbe? Eigennutz aus Überzeugung!
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