In vier Monaten werden in Berlin von den einen Wunden geleckt werden und von den anderen Koalitionsverhandlungen vorbereitet. Die Freien Demokraten wollen diesmal zu den anderen zählen und mitregieren, sagt jedenfalls Hans-Ulrich Rülke. Und offenherzig plaudert der Chef der Landtagsfraktion weiter: lieber mit der CDU unter einem Kanzler Armin Laschet als in einer von Annalena Baerbock oder Olaf Scholz geführten Ampel. Und natürlich keinesfalls um jeden Preis. Steuererhöhungen beispielsweise würde es mit den Liberalen nicht geben. Steuersenkungen aber schon: Der Leitantrag des Vorstands für den Landesparteitag am 19. Juni fordert eine Körperschaftssteuer von 12,5 statt der geltenden 15 Prozent, womit die Bundesrepublik in die Gruppe der Dumping-Länder in der EU abrutschen würde an die Seite von Polen und Ungarn.
Wie solche und ähnliche Ideen immer mehr Appetit wecken beim besserverdienenden Publikum, zeigt die bundesweite Demoskopie. Emnid, INSA oder Forsa sieht die FDP mittlerweile deutlich über den fast elf Prozent von 2017, nämlich gleichauf mit und teils sogar vor der SPD im Bereich von 14 Prozent. Und dass Baden-Württemberg eine zentrale Rolle spielen muss, wenn es noch weiter nach oben gehen soll, zeigt der Blick zurück auf die Bundestagswahl 2009. Damals glänzten die Liberalen republikweit mit 14,6 Prozent, maßgeblich mit eingefahren im Stammland, wo die Partei stolze 18,8 Prozent erzielte, nur einen halben Punkt hinter den Sozialdemokraten. Ein Kopf-an Kopf-Rennen haben sich die beiden Parteien auch bei der Landtagswahl im März geliefert, wenngleich auf niedrigerem Niveau. Schlussendlich lagen die hiesigen Roten mit 27.000 Stimmen vorn - allerdings von oben kommend mit einem Minus von mehr als 144.000 Stimmen, während die FDP fast 63.000 zugelegt hatte.
Vorbei also die Zeiten, in denen das Totenglöckchen läutete, in denen der Kabarettist Max Uthoff der FDP mit seiner berüchtigten Trauerrede "ein letztes Geleit" geben wollte in der Hoffnung, "sie möge nicht wiederkommen". Totgesagte leben eben länger, behauptet jedenfalls ein beliebtes Sprichwort. Trotzdem erstaunt, dass und wie die alte Masche der angepriesenen Steuersenkungen zieht, die volkswirtschaftlich betrachtet noch nie wirklich funktioniert hat. Die FAZ berichtete vor Wochen über ein Papier des Bundestagsfraktionsvorstands, das die Wirtschaft um 60 Milliarden Euro jährlich entlasten soll, um, so die Erwartung, Investitionen von 120 Milliarden auszulösen.
Den dazu passenden Satz von Parteichef Christian Lindner haben seine Vorgänger wie Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff oder Guido Westerwelle sinngemäß zig Mal heruntergebetet: "Der Staat ist nicht der bessere Investor." Dabei ist es doch der Markt in Kombination mit dem Rückzug der öffentlichen Hand, der unter anderem die Schieflage im Wohnungsbau längst nicht mehr nur in den Metropolen verantwortet. Ganz zu schweigen von den profitgetriebenen Fehlentwicklungen in der Industrie, die heute extrem hohe Ausgaben für den Klimaschutz erzwingen. Aus solchen Tatsachen müsste eigentlich längst die Erkenntnis abgeleitet worden sein, dass ein Markt, dem die Politik noch immer viel zu wenig Rahmen vorgibt, die Welt weder retten will noch kann.
Neues Denken gibt es nicht, dafür Prinzipien
"Nie gab es mehr zu tun", lautet der Slogan auf der Internet-Seite der Südwest-FDP. Dennoch oder gerade deshalb dominiert der alte Trott: Nur nicht wirklich neu nachdenken über Ursache und Wirkung, über Schuldenbremse, Mobilität, Wind und Sonne oder gar schlechte Luft. Der Richtspruch des Europäischen Gerichtshofs, Deutschland habe zwischen 2010 und 2016 die Grenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) "systematisch und anhaltend" überschritten, war noch keine Stunde veröffentlicht, da wusste Christian Jung, der neue verkehrspolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, schon, welche Konsequenzen es nicht geben darf: Luftreinhaltepolitik braucht keine Fahrverbote. Freie Fahrt für freie Bürger, die plumpe alte ADAC-Parole beherrscht noch immer das Denken. Mag zwar sein, dass der Studienrat, der aus dem Bundestag ins Stuttgarter Parlament rotierte, am Ende recht behält. Belege für diese Vermutung kann er aber keine liefern. Stattdessen heißt es reichlich borniert, die Landtagsfraktion lehne "Fahrverbote ab". Und zwar "prinzipiell".
1 Kommentar verfügbar
Frübis Johannes
am 10.06.2021Unvergessen die Kampagne vor der Bundestagswahl 2009 von Guido Westerwelle.
Mehr Netto vom Brutto.
Das Wahlvolk hat es mit 14,6% honoriert.
Wie leicht sich doch Teile des Wahlvolkes an der Nase herum führen lässt.
Hört sich halt gut an.
Bekommen…