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Auf der Straße

Hanglage Mehrblick

Auf der Straße: Hanglage Mehrblick
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Mit der Natur hatte ich nie viel am Hut, was daran liegen muss, dass ich auf dem Land aufgewachsen bin. Zwar gehöre ich heute nicht unbedingt zu denen, die beim Gang durch den Wald "nichts als Brennholz" sehen, wie Tolstoi gefrotzelt hat. Aber hin und wieder habe ich schon Bock, einem Specht Feuer unterm Arsch zu machen, weil er zu laut trommelt.

Kindheit und Jugend auf dem Dorf schürten einst meinen Drang, alles, was an Ackerbau und Viehzucht erinnerte, zu verfluchen wie eine böse Krankheit. Noch Jahre später roch für mich schon ein Obst- und Gemüsegarten nach Ackerbau und ein Hühnerstall nach Viehzucht. Hin und wieder hat mein Vater in unserem Garten ein Huhn auf dem Holzblock mit der Axt hingerichtet. War es auch etwas bedauerlich, wenn eine glückliche Henne für unser Sonntagsmahl sterben musste, so war ein totes Huhn doch ein gutes Huhn. Ich musste es nicht mehr füttern.

Ob mein Rückblick der Wahrheit entspricht, spielt keine Rolle. Wahr ist, dass das dörfliche Gefängnis das brennende Verlangen weckte, so schnell wie möglich nur noch auf Asphalt zu leben. An Obst- und Gemüsefelder durften allenfalls noch Pfirsiche in Hemingway-Daiquiris und Selleriestangen in Bloody Maries erinnern.

Für den betörenden Duft von frischem Gras reichten Songs wie "Octopus's Garden" und "In-A-Gadda-Da-Vida". Vor allem die Iron-Butterfly-Nummer mit ihrem nächtelangen Schlagzeugsolo machte mächtig Eindruck, schon weil eine gute Legende dazu herumschwirrte: Ihr Schöpfer Doug Ingle hatte ursprünglich "In The Garden Of Eden" getextet, war dann aber beim ersten Vorspielen so zugedröhnt, dass er nur noch "In-A-Gadda-Da-Vida" stammeln konnte. Seine Kollegen waren so schlau, an dieser psychedelischen Wunderzeile festzuhalten. Am Rande sei erwähnt, dass sich mein Landeitraum, der Dörflichkeit zu entkommen, nicht erfüllte. Ich landete in Stuttgart.

Neulich bin ich ohne psychedelischen Anschub in eine Kleingartenkolonie auf den Hügeln über der Stadt hineingestolpert. Immer mehr Zeitgenossen begreifen solche Oasen mit ihren göttlichen Ritualen wie Säen, Gedeihen und Ernten als wahren Garten Eden. Ich konnte auf die Stadt herunterschauen, die von oben immer wie eine gute Stadt aussieht. Und um mich herum war es so verdammt still, dass ich Angst bekam.

Solche Orte, sagte ich mir, müssten doch ideal sein für eine dringend notwendige Übung namens "Abschalten", in besseren Kreisen auch als Resilienz-Garteln bekannt. Als ich dann aber in der Ferne den Stuttgarter Gaskessel sah, dachte ich schon wieder an Sozen-Schröder und die Schlachten in der Ukraine. Vermutlich bräuchte ich ein sehr langes Parzellenleben an den Hängen der Stadt, um runterzukommen.

Ich habe jedoch nicht vor, irgendwo das Kleingärtnergeschäft zu stören, und werde mich hüten, den Bau eines Kompostklos, das Züchten von Blumenkohl oder ähnliche erotische Beet-Geschichten in Angriff zu nehmen. Präziser gesagt: Von Gärten habe ich keine Ahnung, weiß bestenfalls, dass "Gartenwirtschaft" nicht in dieselbe Wortreihe gehört wie "Holzwirtschaft" oder "Abfallwirtschaft".

Seit Jahren herrscht ein Kleingarten-Boom, und die Corona-Pandemie hat die Nachfrage noch einmal deutlich verschärft. Die Menschen brauchen Luft zum Atmen, mehr denn je. Lässt sich die Redewendung "Nur die Harten kommen in den Garten" noch als Metapher für Durchhaltevermögen interpretieren, müssen heute fast alle Sehnsüchtigen auf der Suche nach einer Laube das Schlimmste befürchten: Willst du in den Garten, musst du ewig warten. Mal fünf, mal zehn oder gar zig Jahre. Bevor unsereiner eine Scholle eroberte, läge er six feet under im Gebeinsgarten, wie der Dichter sagt.

In Stuttgart gibt es mehr als 60 Kleingartenanlagen. Ich bin in der Kolonie Raichberg gelandet, in der Nähe des Waldheims Gaisburg (bekannt auch als "Kommunisten-Waldheim", heute trägt es den Namen des Arbeiterführers Friedrich Westmeyer). Nicht nur die Waldheim-, auch die Kleingarten-Bewegung hat soziale und politische Hintergründe. In der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts lebten die Proletarier unter erbärmlichen Bedingungen. Kleine Gärten sollten ihnen bessere Ernährung und etwas Erholung bringen. Ähnliche Anstrengungen, wenigstens kurzfristig den miesen Zuständen zu entkommen, gibt es seitdem immer wieder.

Die Anlage am Raichberg mit ihren mehr als 90 Gärten wurde wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in einem ehemaligen Steinbruch errichtet. Wie in anderen Kolonien entstand ein Mikrokosmos mit Gartenhäuschen und Gaststätte, eigenen Musikanten und entsprechenden Festen. Die Gaststätte heißt heute Ratze, weil sich die Gärtner einst ungebremst den ultraharten Ingwerschnaps "Ratzebutz" einverleibten. Für ein "Stückle" oder "Gütle", wie die Parzellen in Stuttgart heißen, zahlt man heute 200 bis 300 Euro im Jahr.

Im Lauf der Zeit hat sich das Bild vom Schrebergarten gewaltig verändert, wobei man wissen sollte, dass der Arzt Moritz Schreber kaum etwas mit den Fluchtorten zu tun hat. Er wurde lediglich ihr Namenspatron und war zuvor unter anderem aufgefallen, weil er als pädagogischer Kinderschleifer eine Maschine gegen Masturbationsgelüste erfand.

Heute gibt es einen regelrechten Kleingarten-Kult, der die Klischees vom Spießer mit Bierbauch im VfB-Trikot neben Gartenzwergen sprengt. "Bei uns siehst du heute mehr Buddha-Köpfe als Gartenzwerge", sagt mir der Raichberg-Vorstand Karsten Hoppe, gelernter Grafikdesigner. Stoische Gelassenheit ist gelegentlich nötig im Nebeneinander an den Graswurzeln, wo naturgemäß allzu menschliche Konflikte drohen, frei nach dem Volksmund: "Zwischen Tulpen und Narzissen hat des Nachbars Katz geschissen."

Der Architekt und Stadtrat Hannes Rockenbauch, seit einem Jahr Laubenpächter am Raichberg, verbindet das Glück im Grünen mit Foucault. In seinem Aufsatz "Andere Räume" schreibt der französische Philosoph: "Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und darauf ist er die Totalität der Welt." Die Praxis im Kampf mit der Natur kommt im Fall Rockenbauch etwas geerdeter daher: "In meinem Garten wächst bevorzugt, was ich nicht gepflanzt habe." Angetan ist er vom Beistand an den Beeten: "Was ich nicht weiß, weiß garantiert jemand anders in der Anlage. Die Gartenleute sind zuverlässiger als Google. Sie leihen auch Werkzeug aus und tauschen Samen und Setzlinge."

Die Sehnsucht, gewissermaßen in der Stadt aus der Stadt zu flüchten, herrscht allenthalben. Das gilt auch für das Urban Gardening, dessen Öko-Philosophen inzwischen selbst denen die "essbare Stadt" versprechen, die ihr Glas- und Beton-Kaff zum Kotzen finden.

Das Gärtnern insgesamt ist ein so komplexes Feld, dass ich mich jetzt schleunigst vom Acker mache. Eine Sache aber muss ich noch klären. "Wenn du einen Garten und dann noch eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen", hat einst Cicero bemerkt. Vor der Niederschrift dieser Weisheit hätte sich der alte Römer allerdings besser mit Wolfgang Schorlau unterhalten. Der Stuttgarter Schriftsteller, Besitzer eines Gartens im Format "Hanglage Mehrblick", schildert mir diese Erfahrung: "Mein ursprünglicher Plan für den Garten lautetet etwa so: Ich fahre morgens hin, schöpfe ein paar Stunden Weltliteratur, zupfe dann erschöpft an dem einen oder anderen Blatt, bis die Energien sich wieder eingefunden haben, schöpfe dann erneut Literatur, zupfe dann noch ein bisschen, und gegen Abend radle ich erschöpft, aber glücklich nach Hause. Dazu habe ich mir als Laie eine Menge Literatur gekauft. Mein Lieblingsbuch heißt: 'Lazy Gardener'. – In Wirklichkeit habe ich in dem Garten noch keinen einzigen Satz geschrieben. Ich habe völlig unterschätzt, wie schnell das Unkraut wächst und wie viel Arbeit er macht."

Meine Rede: Finger weg von der Natur.


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