Ich bin mir sicher, dass ich neuerdings wesentlich schneller in der Stadt herumgehe als während all meiner Zeit als hauptberuflicher Spaziergänger mit dem Ziel, Kolumnen zu füllen. Womöglich sehe ich deshalb nicht weniger. Nach wie vor achte ich in den Straßen auf lebenswichtige Zeitgeist-Botschaften wie die am Schaufenster eines der Geschäfte, die früher "Friseursalons" hießen: "Trend ist Masse, Individualität ist Kunst". Das Wort Kunst in der englischen Version "Art" taucht in diesem StuttgArt übrigens so oft auf, dass ich es in meiner abartigen Weltbetrachtung immer öfter als "Arsch" wahrnehme.
Mein gesteigertes Spaziergänger-Tempo rührt angesichts meines Alters nicht nur von den schwindenden Zukunftsaussichten her. "Wer noch leben will, der beeile sich", hat Arno Schmidt 1959 geschrieben. Schon fünf Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors hatte der Korea-Krieg begonnen, bereits 1951 war ein deutscher "Verteidigungsbeitrag" im Gespräch – und die internationale Atomwaffenproduktion in vollem Gang. Der Russe stand samt Drittem Weltkrieg vor der Tür.
So wunderte ich mich schon als junger Kerl, dass ich überhaupt noch geboren werden konnte. Dieses an sich absurde Ereignis brachte mich dazu, ein Leben als Pessimist zu führen. Nur auf diese Art konnte ich ertragen, dass die Stuttgarter Kickers bis in die fünfte Liga abstürzten. Ich habe ihnen das nie krumm genommen, weil sich für einen Pessimisten "Oberliga" immer noch verdammt glamourös anhört. Wenn du in einer Stadt lebst, in der sie auf dem Marktplatz einen metallenen Foodtruck mit Blumentrögen einzäunen und "the ratskellerbar" nennen, spielst du ohnehin bar jeder Klasse in der Kreisliga.
Die Zeit des Schlenderns ist vorbei
Arno Schmidts Rat, sich im Fall des Lebenwollens zu beeilen, ist mein neuer Schrittmacher. Wie fast alle trage ich einen Tachometer als Health-App im Taschentelefon mit mir herum und jedes Mal, wenn ich einen Schnitt unter 5,3 km/h gehe, trete ich mir in die Weichteile. Die Zeit des Schlenderns ist vorbei. "Keine Atempause / Geschichte wird gemacht / Es geht voran". Nie war der Fehlfarben-Hit von 1982 so aktuell wie heute.
Früher ging ich gemächlich durch Stuttgart und bildete mir ein, je weiter ich komme, desto größer und interessanter kann ich diese Stadt beschreiben. Immer wenn die Leser:innen etwas Unbekanntes erfuhren, mussten sie glauben: Wo Stuttgart draufsteht, ist mehr drin als Nutella. Vieles war ja nur in geistiger Verwahrlosung vergessen oder vertuscht worden.
Kaum habe ich einen Satz wie besagten von Arno Schmidt gelesen, erwacht in mir der krankhafte Trieb, den dazugehörigen Stuttgarter Schauplatz aufzusuchen. Eigentlich lästig, weil es sich in der Urbanstraße, wo ich wohne, bequem aushalten ließe: Ich höre viele Sprachen, sehe viele junge radelnde Menschen aus aller Welt, die irgendwas mit Musik studieren, und so spüre ich von Haus aus den Groove im Schritt.
Infiziert von der Sache Schmidt, machte ich mich auf zum Gebäude des Südwestrundfunks (SWR), früher Süddeutscher Rundfunk (SDR). Vielleicht konnte ich noch etwas riechen von den Gespenstern aus der Intellektuellen-Gruft dieser Stadt.
Lieber Blinddarmentzündung als nach Stuttgart reisen
Das nur schwer fassbare Dichtergenie Schmidt wurde schon 1952 von einem Mitarbeiter namens Martin Walser zu einer Hörspieltagung des SDR eingeladen. Nach einigem Hin und Her und in der Aussicht auf Spesen kam er tatsächlich angereist, obwohl er lieber eine Blinddarmentzündung gehabt hätte, um nicht fahren zu müssen. Im Netz findet sich eine schöne Geschichte des Autors Christian Rehmenklau, wie Schmidt im Hotel Kresse in der Marienstraße nach eigener (sehr fragwürdiger) Darstellung mit einigen anderen Herren in einem "turnhallenmäßigen" Raum mit vier Eisenbetten und zwei Waschschüsseln hätte nächtigen sollen. Also erniedrigender als Boris Becker. Schmidt ist umgehend geflüchtet, zurück nach Kastel/Saar. Unterwegs schrieb er Walser eine Postkarte: Seine Frau sei in die Klinik eingeliefert worden, er habe abreisen müssen.
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Th. Maier
am 18.05.2022