Eigentlich wollte ich möglichst weit weg. Gleich zu Beginn des neuen Jahres. Costa Rica oder Südafrika schwebte mir vor. Was gab es Besseres, als die kalte Zeit irgendwo im Warmen auszusitzen, anstatt hier darauf zu warten, dass Omikron über einen herfiel. Ich hatte so eine Ahnung. Aber ich blieb, wo ich war, und es kam, wie es kommen musste.
Ende Januar erwischt mich das "nette Omikron". Trotz zweimaliger Impfung plus Booster. Ich habe das, was man einen leichten Verlauf nennt. Husten, Schnupfen, Müdigkeit. Noch nicht einmal Fieber. Ich bin heilfroh, dass ich das Ding niemandem "vererbt" habe. Isoliere mich. "In einer Woche ist es vorbei", schreibt mir mein Bruder ermutigend auf WhatsApp, "dann verreist Du." Sieben Tage also. Entschlossen, diese überschaubare Zeit mit Bravour zu meistern, sondere ich einen heroischen Post auf Facebook ab. Ich lerne Arabisch und Spanisch, höre Musik, schreibe an meinem Romanmanuskript.
Doch Omikron ist nicht nett. Es ist vielseitig, tückisch, zum Teil gemein und vor allem ein großer Täuscher. Mein zweiter Post auf Facebook fällt deutlich weniger optimistisch aus. Omikron belagert mich, macht keine Anstalten, sich nach sieben Tagen brav zu verabschieden. Es hat Dinge im Gepäck, die man nicht haben muss. Zwei komplette Wochen bleibe ich in Quarantäne, sehe niemanden.
Dann verreisen wir, mein Partner und ich. Nun doch und trotz allem. Nicht nach Costa Rica, auch nicht nach Südafrika, sondern nach Spanien. Auf der Autobahnraststätte bei Montélimar mache ich meinen letzten Test. Negativ wie schon am Tag zuvor. Ich bin fest entschlossen, Corona hinter mir und das Leben neu beginnen zu lassen.
Eine diffuse Traurigkeit überfällt mich
In unserer ersten Unterkunft nahe Valencia wache ich mitten in der Nacht an Zwerchfell-Verkrampfungen auf. Atembeschwerden. An den folgenden Tagen gesellen sich Stimmungsschwankungen dazu, wie ich sie noch nie erlebt habe. Normalerweise bin ich eine begeisterte, unersättliche Reisetante, deren Elan und Erlebnishunger kaum zu bremsen sind. Auf einmal ist alles anders. Ich bin müde, kaputt, kämpfe mit einer diffusen Traurigkeit, die mich grundlos überfällt und die ich nicht einordnen kann. Alles ist entsetzlich anstrengend. Als ich in Nerja von der russischen Invasion in die Ukraine erfahre, bekomme ich einen Heulkrampf.
Zurück zu Hause, Anfang März, beginnt eine Odyssee durch die Arztpraxen. Um es vorweg zu sagen: Noch nie bin ich auf derart geballte Unkenntnis und Unfähigkeit getroffen, auf Fachidiotentum, auf Rat- und Hilflosigkeit, Achselzucken, auf verbale Pflästerchen nach dem Motto "Das wird schon wieder." Niemand hat wirklich Zeit. Niemand kann mit meinen Symptomen etwas anfangen. Laut Bluttest bei der Hausärztin bin ich pumperlgesund. Im Robert-Bosch-Krankenhaus reicht der Körper nur vom Kopf bis zur Lunge, für den Rest ist niemand zuständig. Zum zweiten Mal bekomme ich ein Spray gegen Bronchialasthma verordnet, das mir aber nicht hilft, weil meine Probleme weiter abwärts im Zwerchfell liegen.
Währenddessen haben meine Symptome mehrere Zähne zugelegt. Eine nie gekannte Unruhe lodert in mir – ein rotes Feuer, das ich nicht zu löschen imstande bin. Ich vertrage keinen Kaffee mehr, keinen Alkohol. Was ist bloß mit mir los? Ich kenne mich nicht mehr. Ich fühle mich im falschen Film. Als sei ein Ufo in mir gelandet. Eine geplante Kurzreise mit meinen betagten Eltern muss ich absagen. Meinen aus Übersee zurückkehrenden Sohn vorwarnen, dass es mir nicht gut geht. Gott sei Dank bin ich im Ruhestand, arbeiten können hätte ich nicht.
Mit der Bitte um einen Termin wende ich mich an die Long-Covid-Ambulanz in Tübingen. Die Dame am Telefon fragt nach meinem PCR-Test, aber ich muss passen, ich habe keinen gemacht, und meine vierzehn positiven Antigentests habe ich weggeschmissen. Als Nachweis muss ich einen Antikörpertest nachreichen. Drei Tage später kommt ein gelbes Kärtchen aus Tübingen, dessen Botschaft mich an die Überschrift zu Dantes Höllentor denken lässt: "Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren." Wir haben März. Der Untersuchungstermin ist am 15. Juni. Wenig später wird er noch einmal verlegt auf Anfang Juli. Wer in aller Welt kann so lange warten, wenn er in Not ist? Gibt es also derart viele Long-Covid-Patienten, dass die Ambulanz des Ansturms nicht Herr wird?
Psychiater ohne Zeit, aber mit saftiger Rechnung
Die Hausärztin hat mir geraten, mich an eine neurologische Praxis zu wenden. Ich kenne keine, habe noch nie eine gebraucht, normalerweise habe ich mein Leben gut im Griff. Ich folge einem Tipp. Die Audienz beim Psychiater dauert fünfzehn Minuten, an deren Ende ich die Diagnose Long Covid bekomme sowie ein starkes Beruhigungsmittel und ein hochdosiertes Antidepressivum, das vier Wochen braucht, um zu wirken. Der "Erfolg" lässt dann auch auf sich warten. Die Waschzettel habe ich mir lieber nicht so genau durchgelesen, sonst hätte ich mit der Einnahme erst gar nicht angefangen. Darüber hinaus, dass sich das Antidepressivum mit absolut nichts verträgt – nicht mit Kaffee, nicht mit Rotwein, mit meinem Magen schon gar nicht –, muss ich mich auch noch zwingen, zu essen, denn ein Appetitzügler ist mit am Werk.
6 Kommentare verfügbar
Stefanie
am 22.05.2022Nach aktueller Einschätzung, sollen rund 10% der Infizierten ein Long Covid ausbilden. Das ist eine erschreckend hohe Quote. Wobei in dieser Berechnung wohl noch nicht einmal jene Personen erfasst…