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Leben mit Long Covid

Ein Ufo in mir

Leben mit Long Covid: Ein Ufo in mir
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Aus dem "netten Omikron" wird Long Covid. Und eine Odyssee durch eine Medizin, die unfähig, rat- und hilflos ist. Guntrun Müller-Enßlin, Theologin, Autorin und Stadträtin in Stuttgart, schreibt über eine Zäsur im Leben, die sich anfühlt, als würde es nie mehr wie es einmal war.

Eigentlich wollte ich möglichst weit weg. Gleich zu Beginn des neuen Jahres. Costa Rica oder Südafrika schwebte mir vor. Was gab es Besseres, als die kalte Zeit irgendwo im Warmen auszusitzen, anstatt hier darauf zu warten, dass Omikron über einen herfiel. Ich hatte so eine Ahnung. Aber ich blieb, wo ich war, und es kam, wie es kommen musste.

Ende Januar erwischt mich das "nette Omikron". Trotz zweimaliger Impfung plus Booster. Ich habe das, was man einen leichten Verlauf nennt. Husten, Schnupfen, Müdigkeit. Noch nicht einmal Fieber. Ich bin heilfroh, dass ich das Ding niemandem "vererbt" habe. Isoliere mich. "In einer Woche ist es vorbei", schreibt mir mein Bruder ermutigend auf WhatsApp, "dann verreist Du." Sieben Tage also. Entschlossen, diese überschaubare Zeit mit Bravour zu meistern, sondere ich einen heroischen Post auf Facebook ab. Ich lerne Arabisch und Spanisch, höre Musik, schreibe an meinem Romanmanuskript.

Doch Omikron ist nicht nett. Es ist vielseitig, tückisch, zum Teil gemein und vor allem ein großer Täuscher. Mein zweiter Post auf Facebook fällt deutlich weniger optimistisch aus. Omikron belagert mich, macht keine Anstalten, sich nach sieben Tagen brav zu verabschieden. Es hat Dinge im Gepäck, die man nicht haben muss. Zwei komplette Wochen bleibe ich in Quarantäne, sehe niemanden.

Dann verreisen wir, mein Partner und ich. Nun doch und trotz allem. Nicht nach Costa Rica, auch nicht nach Südafrika, sondern nach Spanien. Auf der Autobahnraststätte bei Montélimar mache ich meinen letzten Test. Negativ wie schon am Tag zuvor. Ich bin fest entschlossen, Corona hinter mir und das Leben neu beginnen zu lassen.

Eine diffuse Traurigkeit überfällt mich

In unserer ersten Unterkunft nahe Valencia wache ich mitten in der Nacht an Zwerchfell-Verkrampfungen auf. Atembeschwerden. An den folgenden Tagen gesellen sich Stimmungsschwankungen dazu, wie ich sie noch nie erlebt habe. Normalerweise bin ich eine begeisterte, unersättliche Reisetante, deren Elan und Erlebnishunger kaum zu bremsen sind. Auf einmal ist alles anders. Ich bin müde, kaputt, kämpfe mit einer diffusen Traurigkeit, die mich grundlos überfällt und die ich nicht einordnen kann. Alles ist entsetzlich anstrengend. Als ich in Nerja von der russischen Invasion in die Ukraine erfahre, bekomme ich einen Heulkrampf.

Zurück zu Hause, Anfang März, beginnt eine Odyssee durch die Arztpraxen. Um es vorweg zu sagen: Noch nie bin ich auf derart geballte Unkenntnis und Unfähigkeit getroffen, auf Fachidiotentum, auf Rat- und Hilflosigkeit, Achselzucken, auf verbale Pflästerchen nach dem Motto "Das wird schon wieder." Niemand hat wirklich Zeit. Niemand kann mit meinen Symptomen etwas anfangen. Laut Bluttest bei der Hausärztin bin ich pumperlgesund. Im Robert-Bosch-Krankenhaus reicht der Körper nur vom Kopf bis zur Lunge, für den Rest ist niemand zuständig. Zum zweiten Mal bekomme ich ein Spray gegen Bronchialasthma verordnet, das mir aber nicht hilft, weil meine Probleme weiter abwärts im Zwerchfell liegen.

Währenddessen haben meine Symptome mehrere Zähne zugelegt. Eine nie gekannte Unruhe lodert in mir – ein rotes Feuer, das ich nicht zu löschen imstande bin. Ich vertrage keinen Kaffee mehr, keinen Alkohol. Was ist bloß mit mir los? Ich kenne mich nicht mehr. Ich fühle mich im falschen Film. Als sei ein Ufo in mir gelandet. Eine geplante Kurzreise mit meinen betagten Eltern muss ich absagen. Meinen aus Übersee zurückkehrenden Sohn vorwarnen, dass es mir nicht gut geht. Gott sei Dank bin ich im Ruhestand, arbeiten können hätte ich nicht.

Mit der Bitte um einen Termin wende ich mich an die Long-Covid-Ambulanz in Tübingen. Die Dame am Telefon fragt nach meinem PCR-Test, aber ich muss passen, ich habe keinen gemacht, und meine vierzehn positiven Antigentests habe ich weggeschmissen. Als Nachweis muss ich einen Antikörpertest nachreichen. Drei Tage später kommt ein gelbes Kärtchen aus Tübingen, dessen Botschaft mich an die Überschrift zu Dantes Höllentor denken lässt: "Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren." Wir haben März. Der Untersuchungstermin ist am 15. Juni. Wenig später wird er noch einmal verlegt auf Anfang Juli. Wer in aller Welt kann so lange warten, wenn er in Not ist? Gibt es also derart viele Long-Covid-Patienten, dass die Ambulanz des Ansturms nicht Herr wird?

Psychiater ohne Zeit, aber mit saftiger Rechnung

Die Hausärztin hat mir geraten, mich an eine neurologische Praxis zu wenden. Ich kenne keine, habe noch nie eine gebraucht, normalerweise habe ich mein Leben gut im Griff. Ich folge einem Tipp. Die Audienz beim Psychiater dauert fünfzehn Minuten, an deren Ende ich die Diagnose Long Covid bekomme sowie ein starkes Beruhigungsmittel und ein hochdosiertes Antidepressivum, das vier Wochen braucht, um zu wirken. Der "Erfolg" lässt dann auch auf sich warten. Die Waschzettel habe ich mir lieber nicht so genau durchgelesen, sonst hätte ich mit der Einnahme erst gar nicht angefangen. Darüber hinaus, dass sich das Antidepressivum mit absolut nichts verträgt – nicht mit Kaffee, nicht mit Rotwein, mit meinem Magen schon gar nicht –, muss ich mich auch noch zwingen, zu essen, denn ein Appetitzügler ist mit am Werk.

Mein Gott, ist das beschissen, wenn man keinen Hunger mehr hat! Meine Lebenslust kriegt einen Dämpfer nach dem anderen. In zwei Wochen nehme ich drei Kilo ab. Auf den Vorschlag meines Partners, mal wieder in ein Restaurant zu gehen, reagiere ich mit fast panischer Abwehr. Ich igle mich in meinen vier Wänden ein, meide Kontakte, kommentiere die besorgten Fragen von Familie und Freunden nach meinem Befinden wortkarg mit "Geht so." Ich bin zappelig und schlafe immer schlechter, worauf der Psychiater auf meiner Medikationstabelle eine "kleine Änderung" vornimmt und zwei weitere Medikamente addiert. Meine Ängste, ich könnte abhängig werden, wischt er mit einer Handbewegung fort, steht auf, öffnet die Tür und komplimentiert mich unmissverständlich hinaus: Die Miniaudienz ist zu Ende. Mein Vertrauen auch.

Am Abend des gleichen Tages setze ich das Beruhigungsmittel ab. Pünktlich fünf Tage später stellen sich Entzugserscheinungen ein wie aus dem Lehrbuch. Es folgen beschissene Tage (und Nächte), über die ich lieber schweige. Ebenso wie über die satte Psychiaterrechnung, die mir bald darauf ins Haus flattert. Brechreiz überkommt mich: Da wendest du dich an jemanden mit einem Problem, und dann kriegst du noch eins dazu, und der, der es dir eingebrockt hat, verdient sich eine goldene Nase damit.

Irgendwann will ich wieder Hunger haben

Der Besuch bei einem Neurologen, der nicht Psychiater ist, erweist sich als der erste gute Schritt: Endlich jemand, der sich Zeit nimmt. Er schüttelt über die Medikation seines Kollegen den Kopf, empfiehlt, alles abzusetzen und es mit einem sedierenden Antidepressivum zu versuchen in der niedrigsten Dosierung. Später, als wir das Rezept holen, denke ich zum ersten Mal: Ich will wieder leben. Will wieder Hunger haben und essen. Und irgendwann auch wieder Wein trinken. Tage voller Auf und Ab folgen. Wenigstens die Richtung scheint jetzt zu stimmen. Unter dem Strich geht es aufwärts – ganz allmählich.

Long- und Post-Covid

Auch wenn die Begriffe gelegentlich synonym gebraucht werden: Long Covid bezeichnet Beschwerden, die wenigstens vier Wochen nach einer Infektion mit dem Coronavirus bestehen, Post Covid wiederum Beschwerden, die wenigstens zwölf Wochen danach bestehen – in beiden Fällen müssen sie ursächlich mit der Infektion zusammenhängen. Laut der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich um eine Vielzahl möglicher Symptome, die unterschiedliche Organe betreffen können, von Atemnot über Erschöpfungszustände und Konzentrationsstörungen bis hin zu depressiven Symptomen. Long- oder Post-Covid-Symptome können dabei auch nach asymptomatischen, milden oder moderaten Infektionsverläufen auftreten.

Wie viele Covid-Erkrankte später an Long- oder Post-Covid-Symptomen leiden, lässt sich statistisch noch nicht genau sagen, die Ergebnisse diverser Studien gehen teils weit auseinander. Laut der Initiative Long Covid Deutschland leiden mindestens zehn Prozent aller COVID-19-Erkrankten – Stand März bereits mehr als 500.000 Menschen bundesweit – an diversen anhaltenden oder neu auftretenden gesundheitlichen Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Infektion, die länger als drei Monate anhalten. Auch wenn Geimpfte, die sich mit SARS-CoV-2 infizieren, seltener betroffen sein sollen, würde dies bei aktuell 25,8 Millionen seit Anfang 2020 nachweislich Infizierten in Deutschland (Stand 17. Mai 2022) bedeuten, dass unter Umständen bald rund 2,6 Millionen Menschen im Land an Long- oder Post-Covid-Symptomen leiden.

Informationen zu Long- und Post-Covid, etwa zu den häufigsten Symptomen, bieten beispielsweise das RKI, Long Covid Deutschland oder die Stadt Stuttgart.

Ein Verzeichnis von Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland hat die Informationsstelle NAKOS zusammengestellt. Die Stuttgarter Gruppe trifft sich jeden ersten und dritten Freitag im Monat von 17.30 Uhr bis 19.30 Uhr im Treffpunkt bei KISS Stuttgart in der Tübingerstraße 15. Es bedarf einer Anmeldung unter Telefon 0151 19089073 oder via www.info--nospam@leben-mit-covid.de.

Empfehlenswerte Links: longcoviddeutschland.org, leben-mit-covid.de, longcovidnetz.de(os)

Im Internet recherchiere ich zur Symptomatik von Long Covid mit dem Ergebnis, dass einfach alles betroffen sein kann – jedes Körperteil, jedes Organ, jede Funktion. Depressionen und Angst sind häufig. Ich lese von Erschöpfung und Brain Fog, von Schwindel, Tinnitus, Haarausfall, von Verwirrung und Muskelschmerzen und denke: Nee, danke, das willst du auch nicht haben! Der Kontrollverlust über den eigenen Körper und seine Funktionen, die plötzlich durch das Virus fremdgesteuert sind – das scheint allen oder vielen Symptomvarianten gemeinsam zu sein.

Vierzehn Wochen sind seit dem Beginn meiner Corona-Erkrankung vergangen. Es geht mir besser, aber noch traue ich dem Frieden nicht. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Ei auf einer Wippe. Vor Kurzem sind die meisten Corona-Beschränkungen aufgehoben worden. Überall wird frohlockt über sinkende Inzidenzen. In einem ausverkauften Konzert in der Liederhalle, das ich besuche, wird mir anders: Kaum jemand trägt Maske. Sind die bescheuert? Ich bin sicher, das wird uns noch auf die Füße fallen. Im Sozialausschuss des Gemeinderats tue ich meine Verwunderung kund, dass das Thema Long Covid in der öffentlichen Diskussion so gut wie keine Rolle spielt. Dass man auf der Suche nach Hilfe mehr oder weniger im Nebel stochert. Nach wie vor, trotz zunehmender Fallzahl und obwohl laut wissenschaftlicher Untersuchungen jedeR Zehnte davon betroffen ist. Bei den derzeitigen Tagesinzidenzen werden in Zukunft also Millionen von Menschen mit diesem Krankheitsbild zu tun haben. Und nicht nur sie, sondern auch ihre ArbeitgeberInnen, Kliniken und Krankenkassen.

Gute Tage sind ein Geschenk im besten Sinne

Hat die Ignoranz gegenüber dem Thema auch damit zu tun, dass bei den Nichterkrankten Long Covid unterschätzt und bei Erkrankten zur Tatsache des Leidens an Long Covid Scham und Schuldgefühle kommen? Darüber, dass man "sowas" hat, dass der eigene Körper nicht damit fertig wird und man sich nicht mehr auf ihn verlassen kann? Mit Depressionen und Gedächtnisschwäche geht man nicht hausieren. Man mag noch nicht mal verraten, dass man dreimal geimpft ist, scheint es doch Impfgegnern zu beweisen, dass die Impfung nichts nützt. Rückzug und Einsamkeit mit der eigenen Not scheinen programmiert. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es Menschen geht, die weniger gut sozial vernetzt sind als ich. Über den intensiven Support meines Partners und meines Sohnes bin ich zutiefst dankbar. Familie und FreundInnen waren immer für mich da. Nicht zuletzt deswegen habe ich aufgehört mit dem Tag zu hadern, an dem ich in jene Kneipe gegangen bin, in der ich mich infiziert habe.

Zu Anfang habe ich meine Krankheit oft als irreversible Lebenszäsur empfunden und gedacht: Es wird nie wieder werden wie vorher. Ich habe recht behalten, aber anders als vermutet. Ich erlebe die Tage, an denen es mir gut geht, als Geschenk im besten Sinn. Ich kann wieder Blues singen und Musik machen.

Ich habe angefangen zu bouldern und zu meditieren, Dinge, die mir ohne meine Krankheitserfahrung nie in den Sinn gekommen wären.

Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt: Die Physiotherapeutin für reflektorische Atemtherapie, die nicht behandeln, sondern heilen möchte und dies mit ihren Händen tut. Den Gründer der Long-/Post-Covid-Selbsthilfe-Initiative, einen umwerfend sympathischen Mann, den Corona gleich im März 2020 gekapert hat und der dem Tod nur um ein Haar von der Schippe gesprungen ist. In der Selbsthilfegruppe, die ich zum ersten Mal besuche, sind wir acht Frauen und ein Mann (kein Zufall, Frauen sind viel häufiger von Long Covid/Post Covid betroffen als Männer). Die Geschichten ihrer zum Teil sehr langen Wege mit Covid, ihr beharrliches Kämpfen beeindruckt und berührt mich sehr. Man hört einander zu, berät sich gegenseitig und erfährt, dass man mit seinem Leiden nicht allein ist. Viele hat es viel schlimmer getroffen als mich. Aber es gibt auch die Ermutigung derjenigen, die nach langer Zeit endlich über den Berg sind.

Ich habe gelernt, dass Menschen keine Maschinen sind, die auf Teufel komm raus zum Funktionieren gebracht werden müssen und können. Ich habe erfahren, dass chemische Antidepressiva schon in sehr kleinen Dosen gut wirken und es ebenso wirksame und weniger schädliche Alternativen aus der Naturheilkunde gibt. Ich lerne, dass mein Körper nicht gegen mich ist, dass er gesund werden möchte – mit meiner Geduld und seiner ganz eigenen Zeit.


Guntrun Müller-Enßlin, 63, war zuletzt Pfarrerin in Stuttgart-Weilimdorf, ehe sie 2021 in Ruhestand ging. Seit 2014 ist sie im Stuttgarter Gemeinderat für das parteifreie Bündnis "Stuttgart Ökologisch Sozial" (SÖS) in der Fraktionsgemeinschaft "Die FrAktion" und dort kulturpolitische Sprecherin. Sie hat mehrere Romane geschrieben und ist auch als Gegnerin des Bahnprojekts Stuttgart 21 hervorgetreten.


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6 Kommentare verfügbar

  • Stefanie
    am 22.05.2022
    Antworten
    Ein sehr bereichernder Beitrag, der nachvollziehbar macht, welche Nöte mit Long Covid einhergehen.
    Nach aktueller Einschätzung, sollen rund 10% der Infizierten ein Long Covid ausbilden. Das ist eine erschreckend hohe Quote. Wobei in dieser Berechnung wohl noch nicht einmal jene Personen erfasst…
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