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Stadtpalais Stuttgart

Ein offenes Haus

Stadtpalais Stuttgart: Ein offenes Haus
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Um die zunehmende Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, schlägt Stadtplanungs-Professorin Martina Baum vor, in jedem Stadtteil ein offenes öffentliches Gebäude zu errichten. In anderen Ländern gibt es das schon. Und in Stuttgart gäbe es geeignete Objekte.

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Ein junger Mann dreht einen Headspin. Zwei Afrikanerinnen tanzen rückwärts ins Bild. Frauen drehen sich in großen Reifen durch die schöne, weite alte Halle. Im Centquatre, einem 2008 zum Kunstzentrum umgewidmeten ehemaligen städtischen Beerdigungsinstitut im 19. Arrondissement von Paris, ist immer etwas los. "Jeder bringt seine eigene Musik mit", erklärt Felix Haußmann, studentischer Mitarbeiter des Forschungsprojekts, das sich an diesem Tag mit dem Video vom Centquatre im Stadtpalais vorstellt. Man könnte meinen, die Tänzer:innen müssten sich in die Quere kommen. Aber keine:r lässt sich von den anderen stören, die bisweilen akrobatischen Bewegungen greifen harmonisch ineinander.

Das Centquatre ist eines der Referenzbeispiele, die sich Martina Baum vom Lehrstuhl Stadtplanung und Entwerfen der Universität Stuttgart und ihr Forschungsteam ausgesucht haben um zu zeigen, was sie sich vorstellen: "ein öffentliches, offenes und inklusives Gebäude". Sie nennen es "Täglich". Ein solches Gebäude, findet Baum, wo jede:r hingehen kann, rund um die Uhr, sollte es in jedem Stadtteil geben. Das niemand gehört oder besser: allen zusammen, der Stadtgemeinschaft. Barrierefrei, ohne Konsumzwang.

Foto: Joachim E. Röttgers

Martina Baum hat Reallabore wie das Future City Lab geleitet. Zu ihren Assisten:innen gehörten Sebastian Klawiter und Hanna Noller, die Gründer:innen des Netzwerks Stadtlücken. An ihrem Institut entstanden die Gruppe Adapter und das Stadtregal als Bachelorarbeit von Felix Haußmann und Ali Haji. "Die Stadt Stuttgart könnte uns ruhig mal benutzen, auf unsere Expertise zurückgreifen", meint die Professorin.  (dh)

"Wir stehen vor großen Herausforderungen", mahnt die Städtebau-Professorin. "Die auf den globalen Turbokapitalismus ausgerichtete Lebensweise der letzten 30 Jahre hat zu unumkehrbaren Folgen geführt, welche die Lebensgrundlagen für Fauna, Flora und Menschheit infrage stellen", führt sie in der Publikation zu ihrem Projekt aus. "Die sozialen Unterschiede werden zunehmend größer, die westliche Welt definiert sich über die Ausbeutung von Menschen wie Ressourcen der restlichen Welt."

"Städte sind seit jeher Orte der Hoffnung auf ein besseres Leben", schreibt Baum. Geprägt von Inklusivität, Partizipation, Demokratie, Toleranz, Gleichheit und Offenheit. "Was wir hingegen heute an vielen Orten erleben", so die Stadtplanerin weiter, "ist das Gegenbild dieses Konzepts. Städte sind vermehrt von Exklusivität, Segregation bis hin zur räumlichen Fragmentierung geprägt." Die Gesellschaft fällt auseinander. Auch die Stadtgesellschaft.

Baum hält dagegen: "Die Stadt als Ort des Zusammenspiels von baulicher, visueller und sozialer Dichte gilt immer noch als die beste Grundlage für soziale Interaktion. Eine koproduktive Stadt nutzt ihre Vielschichtigkeit als Potenzial, damit Neues in einem Miteinander entstehen kann. In dieser Kombination kann der Schlüssel liegen, den globalen und lokalen Herausforderungen positiv und gestaltend zu begegnen."

Gegenmodell zur auseinanderfallenden Gesellschaft

Dafür, so Baum, brauche es einen öffentlichen Raum. Ein Gebäude in zentraler Lage, wo alle zusammenkommen können. Das in seinen Funktionen nicht festgelegt ist. Das "Täglich" ist ein Gegenmodell zur Stadtplanung der Nachkriegszeit, die darauf ausgerichtet war, Funktionen wie Arbeiten, Wohnen, Verkehr und Freizeit strikt zu trennen. Ein Gegenmodell zu vierzig Jahren neoliberaler Politik.

Aber wie soll das aussehen? Eine fertige Antwort liefert das Forschungsprojekt nicht. Es gibt die Publikation, in der Baums Einführungstext in der Mitte steht, gerahmt von fiktionalen Texten, Fotos und Beschreibungen von 34 Vergleichsobjekten: von São Paulo, Brasilien bis Yokohama, Japan. Und 22 Begriffen: von "Gemeingut" und "begegnen" bis "kooperieren" und "vertrauen". Dazu die Ausstellung im Stadtpalais, die zugleich als Bühne dient für Gespräche und Veranstaltungen. Doch es gibt keinen konkreten Entwurf zu diesem Gebäude, das sich "Täglich" nennt.

Transparente Leinwände hängen im Ausstellungsraum. Videos wie das vom Centquatre führen vor Augen, dass es sich bei der Idee nicht um ein Hirngespinst handelt, sondern es solche Gebäude an vielen Orten schon gibt. Freilich mit großen Unterschieden. Im Club Eros in Buenos Aires etwa spielen Jungen und Mädchen Fußball. In einem anderen der 215 Clubes de Barrio, den Nachbarschaftszentren der argentinischen Hauptstadt, – oder ist es derselbe? – sitzen ältere Menschen an Tischen wie in einem Café, aber nicht um Kaffee zu trinken, sondern um miteinander zu spielen.

In der LocHal im niederländischen Tilburg wiederum sitzen Menschen vor aufgeschlagenen Büchern an einem langen Tisch. Rechts stehen Bücherregale – es handelt sich tatsächlich um eine Bibliothek, aber nicht nur. Zweigeschossige Einbauten sind in die 15 Meter hohe ehemalige Lokomotivwerkstatt – daher der Name – eingezogen. Von der ersten führt eine gelbe Freitreppe mit Sitzstufen hinab ins Foyer, ähnlich wie am Kleinen Schlossplatz in Stuttgart und wie diese flexibel nutzbar: zum Ausruhen sowie als Arena für Veranstaltungen.

Stockholms "Wohnzimmer" gehört allen

Ein wenig an den Kleinen Schlossplatz erinnert auch der Sergels Torg, der Platz vor dem Stockholmer Kulturhuset. Aber während der Kleine Schlossplatz an einer viel befahrenen Autostraße endet, münden die charakteristischen dreieckigen Bodenplatten in Stockholm in die zentrale U-Bahn-Station: Der Platz ist immer gut belebt. Und während das Kunstmuseum in Stuttgart dem Platz seine kalte, gläserne Schulter zukehrt, lädt das Kulturhuset auf ganzer Länge ein, seine vielfachen Angebote auf fünf bis sechs Etagen zu entdecken: Theater, Kino, Ausstellungen, Bibliothek und vieles mehr. "Stockholms Wohnzimmer" wird es auch genannt, erbaut 1965 bis 1974 ausdrücklich als Gegenpol zu den kommerziellen Nutzungen der Stadt.

Die brasilianischen SESC-Zentren (Serviço Social de Comércio) – 35 sind es allein in São Paulo, etwa 500 im ganzen Land – finanzieren sich durch eine Abgabe der Handelsunternehmen und einen 1,5-Prozent-Anteil aus der Lohnsteuer. Es sind Zentren für Gesundheit, Sport, Theater und anderes mehr, im Mittelpunkt liegt ein Raum, der sich Convivência nennt: das Zusammenleben.

Was soll also dieses "Täglich" sein: Sportstätte, Kulturzentrum, Gemeinschaftswerkstatt, Club, Bibliothek? Ein wenig von allem oder besser: all das, was im Quartier noch fehlt. Eben deshalb präsentiert die Ausstellung keinen fertigen Entwurf. "Wir haben Umfragen gemacht in Bad Cannstatt", erzählt Baum: "Was würdet ihr dort machen?" Den Bewohner:innen des Stadtteils fiel eine Menge ein. Sich treffen. Einen Platz, um in Ruhe Hausaufgaben zu machen. "Wir haben Cannstatt ausgesucht", erklärt Baum, "weil es ein besonders diverser Stadtteil ist." Viele haben in ihren kleinen Wohnungen wenig Platz und könnten schon deshalb ein öffentliches Zusatzangebot sehr gut gebrauchen.

Geeignete Objekte gäbe es genug. In Cannstatt etwa das Parkhaus zwischen Bahnhof und Wilhelmsplatz, im Besitz der Stadt, mit einigen Lokalen, die seit langer Zeit leer stehen: Für ein "Täglich" "geradezu prädestiniert", meint Baum. Oder, gleich gegenüber, der leer stehende Kaufhof. Er befindet sich im Besitz der LBBW, die abreißen und neu bauen will. Die Diskussionen um die graue Energie, die bei Abriss und Neubau verloren geht, sind bei der Landesbank noch nicht angekommen.

Es gab sogar schon einmal ein solches Zentrum im Stuttgarter Osten: in den 1980er- und 1990er-Jahren, genannt "Das Werk". Es war die Keimzelle der viel gerühmten Stuttgarter Integrationspolitik.

Züblin-Parkhaus als Stuttgarts Wohnzimmer

Baum hat sich mit ihren Studierenden eine größere Zahl konkreter Gebäude in Stuttgart angesehen: von ehemaligen Tankstellen und leer stehenden Ladenflächen bis hin zum Rathaus und zum Neuen Schloss. Sie wollten wissen, wie ein solches Gebäude beschaffen sein müsste. Das Rathaus zum Beispiel ist wenig geeignet: eine große, schwere Tür, ein Vorraum mit Rezeption. Das sind Schwellen, die Besucher abhalten, das Gebäude zu betreten. Ebenso schwierig sind geschlossene Türen und empfindliche Materialien wie im Stadtpalais, wo nicht einmal ein Tesafilm an die Wand geklebt werden darf.

Viel besser geeignet wäre das Züblin-Parkhaus, wo es bereits verschiedene, niederschwellige Angebote gibt. Oder generell halb offene Räume wie an einigen neuen Schulen ohne Klassenzimmer in Dänemark: Alles ist offen und einladend, trotzdem kann man sich auch ein wenig zurückziehen. Kleine Modelle zu solchen räumlichen Situationen sind nun in der Ausstellung zu sehen.

Auch einige Masterarbeiten sind entstanden: unter anderem von Felix Haußmann, Matthias Krumbe und Sandra Schlegel zum Schoettle-Areal oder zu einigen Gebäuden in der Königstraße, darunter der früheren Kaufhalle, dann Sportarena, die heute leer steht. Der Bau gehört der Signa-Gruppe des Immobilienhais René Benko, der schon Kaufhof und Karstadt besitzt. Er wollte zuerst aufstocken und nun abreißen, das ist einfacher.

In Stuttgart gehen solche Gebäude fast immer an Investoren. Die Stadt zeigt wenig Interesse. 160.000 Euro hat der Gemeinderat dem Projekt "Täglich" im Doppelhaushalt 2020/21 bewilligt. Sie wurden nicht ausgezahlt. Selbst im Stadtpalais, das ein Palais für die ganze Stadt sein will, gehen private Interessen vor: Wenn der Pächter des Cafés den Veranstaltungsraum, in dem die Ausstellung stattfindet, für eine Hochzeit vermieten will, muss er innerhalb von 24 Stunden geräumt sein.

Baum hat auch Baubürgermeister Peter Pätzold zu einer der Diskussionen eingeladen. Es kam nicht einmal eine Antwort. Aber einige andere kommen, unter anderem am kommenden Freitag, dem 7. Oktober: Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle, Co-Oberbürgermeister Martin Körner, der Vorsitzende der Schwäbischen Tafel Hans-Ulrich Rabeneick sowie Polizeihauptkommissar Hermann Volkert, der Leiter des Referats Prävention, der sehr wohl glaubt, dass Stuttgart ein solches Haus gebrauchen könnte.


Info:

Die Sonderausstellung "Täglich" im Stadtpalais läuft nur noch bis Dienstag, 11. Oktober, die Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Freitag bis 22 Uhr.

Nicht auf der Website des Museums und deshalb hier angekündigt sind zwei Gesprächsrunden:
•  Freitag, 7. Oktober um 16.30 Uhr zum Thema gestalten, entwerfen und ermächtigen mit Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle, Wanderbaumallee, Wortkino, Clubkollektiv, Martin Körner, Hans-Ulrich Rabeneick von der Schwäbischen Tafel, Polizeihauptkommissar Hermann Volkert, Architekturkritikerin Amber Sayah für Aufbruch Stuttgart und dem FDP-Landtagsabgeordneten Dennis Birnstock.
•  Sonntag, 9. Oktober um 15.30 Uhr zum Thema aushandeln / Kultur des Miteinanders mit Silke Schmidt-Dencker, der Geschäftsführerin der Kinderstiftung, Jule Fiedler vom Stiftungsnetzwerk Region Stuttgart, der Stadtisten-Gemeinderätin Deborah Köngeter, der Gruppe Adapter und Susanne Scherz, der Leiterin der Abteilung Straßenverkehr am Amt für öffentliche Ordnung.

Außerdem gibt es am Samstag, dem 8. Oktober von 13 bis 17 Uhr einen Hausforschertag für Kinder, am Sonntag, 9. Oktober von 17.30 bis 22 Uhr eine Bandprobe des Citizen Kane Kollektivs und zur Finissage am Dienstag, 11. Oktober ab 19:30 Uhr eine Probe des Offenen Chors.

Die Publikation unter dem Titel "Täglich", herausgegeben von Martina Baum und Markus Vogl, ist im Verlag M Books erschienen, hat 228 Seiten und kostet 20 Euro.


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2 Kommentare verfügbar

  • WernerS
    am 12.10.2022
    Antworten
    Es gibt in Stuttgart noch zwei weit besser geeignete Objekte. Da könnte man durch Öffnung herausfinden wozu sie überhaupt taugen würden. Einmal das verglaste Würfelchen am Schloßplatz und dann der Hafenspeicher/Flakturm im Europaviertel.
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