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Auf der Straße

Im Heldenkampfe

Auf der Straße: Im Heldenkampfe
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Nicht lange her, da bin ich unbeschwert losgestiefelt, der Nase nach, immer guter Hoffnung: Heute ist der Tag, an dem du Geschichte schreiben wirst. Na gut: wenigstens eine kleine Geschichte, auch wenn sie nur eine Handvoll Nasen interessiert. Irgendwo ist etwas, sagte ich mir, du wirst Bilder mit deinem Taschentelefon knipsen und Wörter in dein Notizbuch kritzeln, die du später nicht mehr lesen kannst, was wurscht ist, weil du mit Fake News und Fantasie die Sache regelst. Du wirst nicht ohne Beute nach Hause gehen, Spaziergänger, du bist ein Jäger. Wer geht, lebt.

Manchmal kam ich mir erhaben vor wie ein Welteroberer in meiner kleinen Stadt und in jeder anderen sowieso. Schwerelos, leichtsinnig zog ich herum, auf den Spuren von Søren Kirkegaard, der mal seiner Schwägerin Jette schrieb: "Ich laufe also schnell, mit gesenkten Augen stehle ich mich sozusagen durch die Straßen, im Vertrauen, Straßenrecht zu haben, rechne ich darauf, mich gar nicht vorsehen zu müssen ..."

Spielt keine Rolle, wem dann Herr K. begegnet ist. Wenn ich mich heute nicht vorsehe beim Herumgehen, habe ich ohne Radar- und Hörgerät bestenfalls noch die Chance, einen SUV-BMW mit Tausend-PS-Verbrenner wahrzunehmen, bevor ich tot bin. Ganz sicher aber bemerke ich keine Elektrokarre, keinen E-Scooter oder gar ein Fahrrad, dessen Herrenreiter auf jedem Gehweg das Straßenrecht in Anspruch nimmt. Neuerdings halten Stuttgarter Cops Radler an, um ihre Fahrzeuge zu kontrollieren. Im Schlossgarten wurden reihenweise Lichtreflektoren und Bremsen überprüft, was mich als Fußgänger nicht zwingend vor mentalen Defekten des Personals im Sattel schützt. Drahtesel ist seit jeher ein dummes Wort, aber Esel stimmt oft genug.

Längst bin ich als Fußgänger ein sozialer Verlierer, ein Unterdrückter und womöglich bald schon ein Zerdrückter, obwohl ich auch ohne Hörrohr noch gut höre. Dies betone ich, weil ich inzwischen beim Besuch der Stuttgarter Kickers von den Security-Typen nicht mehr ordnungsgemäß kontrolliert und betatscht, sondern – mitfühlend belächelt – durchgewinkt werde. Die Bodychecker denken, ich sei zu alt, um eine Gefahr für andrer Leute Leib und Leben darzustellen. Diese Diskriminierung verleitet mich immer öfter, bei unseren Ultras als Mule anzuheuern. Ich wäre ein guter Pyro-Kurier. Kein Stadionwächter würde die Rakete in meiner Unterhose bemerken. Und wir haben noch ein Heimspiel, bevor die Weihnachtsbäume in den Stuben niederbrennen.

Wo sich die NSDAP versammelte, ist heute Finanzamt

Ich gehe von West nach Ost, wozu du in Stuttgart keine Stunde brauchst, die Rotebühlstraße hinunter im blinden Vertrauen, Gehwegrecht zu haben. Einmal blicke ich auf, weil mir der massige Rotebühlbau linker Hand trotz gesenkter Augen in selbige fällt. Oben ist eine Gedenkschrift angebracht: "1809–1919. Infanterie Regiment Friedrich König von Preußen (z. Württ.). Nr 125, im Heldenkampfe für das Vaterland sind 1914–1918 in den Tod gegangen: 140 Offiziere 3901 Mann".

Heute sind in dem ehemaligen Kasernenkoloss Finanzbehörden untergebracht, darunter das Finanzamt, das bei der Ausplünderung der Juden in der Nazi-Diktatur eine herausragende Rolle spielte. Im Innenhof der Gebäude fanden Zwangsversteigerungen jüdischen Besitzes statt, auch Parteiversammlungen der NSDAP und propagandistische Massenaufmärsche. Das war nur wenige Jahre nach dem "Heldenkampfe für das Vaterland", und bei diesem Text dreht sich einem der Magen um, wenn man Remarques Roman "Im Westen nichts Neues" gelesen hat (er ist für 8,99 Euro als neu aufgelegtes KiWi-Taschenbuch zu haben und empfehlenswerter als die kriegsgräuelkitschige Netflix-Verfilmung).

Über die Geschichte des Finanzdirektionsgebäudes wäre noch viel zu erzählen, auch von revolutionären, demokratischen Aktionen, die sich auf diesem Areal abgespielt haben. Aber Spaziergänge sind keine Forschungsfußreisen. Eigentlich sollten sie der psychischen Befreiung dienen, doch in diesen deprimierenden Tagen der Kriege und Krisen reicht die Beinarbeit nicht mehr aus, sich der Zerstreuung hinzugeben.

Ein Lichtblick in meinem dunklen Hirngehäuse ist die Anekdote von einer Behörde, die in den Fünfzigerjahren unter der liebenswerten Bezeichnung "Gewerbeaufsichtsverwalter der Bundesrepublik im Ausschuss für Blitzableiterbau" im Rotebühlbau untergebracht war. 1953 schlug der Blitz in die Finanzkaserne ein, es entstand ein gewaltiger Dachschaden, dessen Folgen wir Steuerzahler bis heute zu spüren bekommen.

Plötzlich: Gänsehaut-Stimme aus den Regenwolken!

Am erregendsten sind für mich Spaziergänge in der frühen Dunkelheit. Zurzeit verströmen die Lichter der Stadt bei etwas gutem Willen des Betrachters den November-Blues, vor allem wenn es regnet. Der Blick verschwimmt, und es ist gut, die Welt nicht mehr scharf zu sehen. Reiner Zufall, dass ich auf meinem Weg von West nach Ost am frühen Abend im Glühweinrummel vor dem Rathaus lande. Ich wusste nicht einmal, dass der Weihnachtsmarkt (WM) bereits geöffnet hat. Aber schon mal da, lasse ich mich treiben. Der Regen stört mich nicht, rechtzeitig habe ich mir einen wasserabweisenden Hut zu Weihnachten geschenkt.

Als ich mit gesenkten Augen am Alten Schloss vorbeigehe, tut sich der Himmel auf, ich höre eine Gänsehaut-Stimme aus den Regenwolken und weil ich ein Mann bin, der schon durch die Hölle gegangen ist, erkenne ich diesen Helden-Sound. Er dringt aus den Boxen, die das Eröffnungsritual des Weihnachtswachstumsmarkts aus dem Schlosshof übertragen. Die Stimme verführt mit betörender Lyrik, schmierige Feuchte dringt in meine schwarze Seele und trotz eines Versprechers kann ich den umwerfenden Reim des Redners gut hören: "Macht hoch die Tür / das Tor macht weit / es ist wieder / Weihnachtsmarktzeit." Kein Zweifel: Es ist The Voice of Backnang. Das Organ des Herrn, der seit seinem Machtantritt ganz Stuttgart als Dorfkirbe zu Ehren des Oberschultes betrachtet. Die Vorsehung.

Kaum hat der große Regent ausgesprochen, erklingt aus vielen Chorknabenkehlen "Es ist ein Ros entsprungen", und ich sehe zu, dass ich den Sprung aus dem Budenzauber in die Stuttgarter Allerweltsnacht schaffe. Vorher entdecke ich noch ein Lebkuchenherz mit der erotischen Botschaft: "Ich. Du. Läuft".

Wenn es so gut läuft, komme ich mir vor wie einer, der gerade wie angeschossen aus dem Kino wankt und in einen neuen Film hineintaumelt. Kann um mich herum passieren, was will: Ich schreite, wie das Model Carl in "Triangle of Sadness", mit einer Melodie im Kopf im Rhythmus des coolen Lebens einher. Das jedenfalls bilde ich mir ein, solange ich noch nicht altersschwach über die eigenen Füße stolpere.

Es ist ein Boss entsprungen

Das Tor macht weit, singen mir die gefallenen Fußballengel im Kopf, und ich habe den Swing der Stadt, auch wenn mir diese Stadt im kakophonischen Partygedöns der ganzjährigen Kapitalismus-Kirmes immer fremder wird. An jeder Ecke scheint ein Boss entsprungen, um den Stallgeruch des Herrn der Herrlichkeit zu verbreiten. Und dann riechst du den Glühwein, die deftigste Stinkbombe des deutschen Wintermärchens.

Falls mein Regenhut durchhält, gehe ich zum nächsten Spiel gegen den großen FSV 08 Bietigheim-Bissingen. Wir werden gewinnen und ich mit den Worten der ZDF-Reporterin Katrin Müller-Hohenstein der Welt verkünden: "Sie haben den Ball reingewollt." Das ist gut. Das Leben an sich ist nicht denkbar ohne das Reingewollthaben. Und so stehle ich mich mit gesenkten Augen ohne Straßenrecht weiter durch die Straßen, bis ein Fahrrad mein Ende im Heldenkampfe fürs Katerland besiegeln wird. Es hat nicht in ihn reingewollt, wird auf meinem Grabstein stehen, doch die Bullen haben die kaputten Bremsen übersehen.


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