Jahrzehntelang war ich auf der Suche nach einer Weihnachtsgeschichte. Irgendwann, als Jesus von Nazareth schon weniger bekannt war als John Lennon und Elon Musk, gab ich auf. Es waren bereits so viele Weihnachtsgeschichten im Umlauf, dass es unmöglich schien, eine weitere zu finden. Es gab ja nicht mal mehr Schnee. Und wenn, wurde er mit Kanonen in die zerstörte Landschaft geballert.
So waren wir nicht drei Männer im Schnee, sondern drei Müßiggänger in einem Speiselokal, die ihr Maul aufrissen. Unser Restaurant, in dem wir uns regelmäßig zum Mittagsmahl treffen, heißt Bosporus, was nicht zwingend auf eine Weihnachtsgeschichte hindeutet, auch wenn das Essen gut ist.
Da in unserer Zeit die Rauschgoldengel von Goldrauschteufeln verdrängt werden, kommt es bei unserem Mittagsmahl häufig zu heftigen Verbalattacken auf allerlei Regierungen. Unklar ist, wer von uns die unsere gewählt hat.
Einer aus unserem Kreis, der aufgrund seiner Nebentätigkeit als Altherrenfußballer immer als Erster vom Stammtisch der degenerierten Dissidenten aufbricht, sucht regelmäßig seelische Erholung bei Arien-Abenden, die Studierende an ihrer Musikhochschule geben. Bei gutem Wetter sind ihre Stimmen bis zum Bosporus zu hören. Weil einige der jungen Menschen sehr schön singen, fiel irgendwann in unserer Dreiecks-Runde der Name Fritz Wunderlich. Was halt so fällt zur Weihnachtszeit. Vielleicht auch, weil der Jahrhundert-Tenor 1966 im leicht fortgeschrittenen Studentenalter von 35 Jahren bei einem Treppensturz tödlich verunglückte. Der Fußball- und Arien-Aficionado an unserem Tisch behauptete, es sei Alkohol im Spiel gewesen.
Ich ging nach Hause und zog die Wunderlich-CD "The Last Recital – der letzte Liederabend" aus meinem Regal. Ich habe vor, den Sänger beim nächsten Dissidenten-Treffen zu rehabilitieren. Ein Mann, der mühelos zwei Oktaven rauf- und runterklettert, endet nicht im Suff auf einer Treppe. Ich hörte mir einige Lieder der CD an, darunter die sexistische "Forelle" aus der Feder des Songwriter-Duos Schubert/Schubart. Irgendwann schlief ich im süßen Bann des göttlichen Organs auf meinem Sofa ein und hätte die ganze Sache vergessen, wäre ich nicht einige Tage später beim Spazierengehen im Osten der Stadt zufällig in der Wunderlichstraße gelandet. Zum Glück, sagte ich mir, haben sie nicht eine ihrer Treppen an den Hängen nach dem Sänger benannt. Wäre etwas zynisch. Die berüchtigten Stuttgarter "Staffeln" und "Stäffele" werden nicht selten mit großen Namen beschildert, oft als Erinnerungsalibi.
Wer trinkt, stürzt sicherer
Stuttgart war für Fritz Wunderlichs Karriere ein wichtiges Kapitel. Geboren wurde er 1930 in der Gemeinde Kusel in der Pfalz, die jetzt in der Weihnachtszeit aus anderen Gründen Schlagzeilen machte: Ein Wilderer, der in Kusel eine Polizistin und einen Polizisten ermordet hatte, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Fritz wächst in Armut auf und schafft es, mit Tanzmusik sein Studium in Freiburg zu finanzieren. An der Hochschule hat er sein Opern-Debüt als Tamino in Mozarts "Zauberflöte" – und wird prompt von der Stuttgarter Oper engagiert. Und dann das Wunder: Als Wunderlich an den Württembergischen Staatstheatern den offiziell erkrankten ersten Tenor Josef Traxel in der Rolle des Tamino ersetzt, weil dessen eigentlicher Vertreter Wolfgang Windgassen zugunsten des Neulings verzichtet, wird er über Nacht berühmt. Was später herauskam: Traxel und Windgassen hatten diese Nummer inszeniert, um dem hyperbegabten Anfänger eine Chance zu geben.
Sein Aufstieg zum Weltstar scheint unaufhaltsam. Doch neun Tage vor seinem 36. Geburtstag und drei Wochen vor seinem geplanten Debüt an der Metropolitan Opera in New York die Tragödie im Jagdhaus eines Freundes im Kraichgau. Da ich seinerzeit nicht dabei war, stütze ich mich auf einen Beitrag, den ich auf der Internetseite "Tamino Klassik" gefunden habe. Dort berichtet ein Insider namens "Operus", Wunderlich, ein leidenschaftlicher Jäger und hochtouriger Lebemann, sei nach einem Telefonat mit seiner Frau Eva eine Treppe "hinaufgestürmt" und auf die offenen Schnürsenkel seiner Schuhe getreten. "Der Sänger wollte sich noch festhalten, ergriff den Handlauf aus Seil und riss diesen aus seiner Verankerung." So sei er mit dem Hinterkopf auf einen Treppensockel geprallt. Er starb in einer Heidelberger Klinik an den Folgen eines Schädelbruchs.
Der Abend sei zwar "nicht abstinent" gewesen, berichtet Operus weiter, von Alkoholabusus aber könne keine Rede sein. Ein Polizist, der am Unfallort war, habe ihm gesagt, mit übermäßig Promille im Blut wäre der Sänger ganz anders gestürzt: "Besoffene fallen langsam und weich." Diese Erkenntnis will ich kurz vor den Weihnachtsritualen hierzulande nicht verschweigen, warne aber Amateure vor Selbstüberschätzung. (Bis heute hält sich in Musiker-Blasen übrigens das Gerücht, Wunderlich sei beim Russisch Roulette umgekommen.)
Nichts für Veganer
Diese ganze Geschichte hätte mich vermutlich nicht weiter beschäftigt, käme ich nicht ständig vor meiner Haustür an einem Schild mit der Aufschrift "Sängerstraße" vorbei. In meiner Straße ist überall Musik. Im Haus mit besagtem Schild an der Fassade arbeitet der Geigenbauer Antoine Muller, geboren 1965 in Luxemburg. Als ich ihn in seiner Werkstatt besuche, hält er mir ein Büschel entgegen, das ohne Weiteres als Weihnachtsbaumschmuck durchgehen könnte: weiße Hengsthaare. Damit bespannt er Bögen. Er zeigt mir einen dunklen Lappen: Daumenleder für Streichinstrumente. Sein Importeur besorgt es sich bei Berbern in der afrikanischen Wüste, die nach alter Sitte die Haut ihrer exotischen Ziegen gegen Gold verkaufen. "Geigen sind nicht unbedingt für Veganer", sagt Muller (sein Name wird Müller ausgesprochen).
Nach seiner Geigenbauerlehre in Mittenwald in Oberbayern und den Wanderjahren mit den Stationen München, Helsinki und Paris kommt er 1994 nach Stuttgart. Seit 2010 ist er in der Urbanstraße, in der Nähe der Musikhochschule, der Staatsoper, der John Cranko Schule. Antoine Muller baut nur noch selten eine Geige, seine Aufgabe ist es, sie zu reparieren und zu restaurieren, oft sehr wertvolle Exemplare. Zu tun gibt es reichlich, er hat zwei Mitarbeiter, seine Frau Martina hilft im organisatorischen Bereich.
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