Das Leben, höre ich oft, sei kein Spaziergang. Was für ein Blödsinn. Spaziergänge sind heute Strapazen. Der Winter ist zurückgekommen, es ist feucht und kalt und meine Jahresgrippe noch nicht abgeklungen. Zum ersten Mal in meiner Laufbahn, die wirklich eine Laufbahn ist, bin ich in langen Unterhosen unterwegs. Und auch wenn ich kein Schild "Ich trage lange Unterhosen" mit mir herumschleppe, kann ich deutlich auf der Haut spüren, wie sich die Blicke aller Passanten voller Verachtung auf meine langen Unterhosen richten, die unter meinen ausreichend langen Überhosen niemand sehen kann.
Etwas wacklig, aber untenrum gut aufgeheizt gehe ich die Neckarstraße entlang, nach zehn Tagen in der Fernseh-Horizontalen ist es Zeit, wieder den aufrechten Gang zu üben. In der Neckarstraße ist weit und breit kein Neckar zu sehen. Sie heißt so seit 1811, weil sie angeblich zum Neckar führt. Dann hätte man sie auch Tiberstraße nennen können. Nach Rom führen bekanntlich alle Wege, was stimmen muss, weil selbst ich schon dort gelandet bin, nur um mich heillos zu verirren.
Wo ich spazieren gehe, ist wurscht, weil ich von Haus aus mit einer heftigen Orientierungslosigkeit leben muss. Überall bin ich auf dem Holzweg, und das passiert mir sogar in meiner eigenen Stadt, die in Wahrheit nicht die meine ist. Warum sonst müssten wir immer wieder Schilder mit der Schlagzeile "Wem gehört die Stadt?" hochhalten? Sicher nicht, um an einen Gangsterfilm mit Edward G. Robinson und Humphrey Bogart zu erinnern.
Der Hinweis auf meinen gestörten Orientierungssinn, womöglich ein Gedächtnisdefekt, ist weiß Gott nicht kokett. Für meine Herumgeherei auf der Suche nach irgendwas ist diese Art Dachschaden ganz nützlich, weil ich so immer wieder irgendwo lande, wo ich meiner Meinung nach nie war, und oft Dingen im Glauben begegne, ich hätte sie nie gesehen. In Wirklichkeit, das sagt mir mein digitales Archiv, hat mein Hirn ein Gebäude, einen Brunnen oder einen Müllhaufen lediglich dem falschen Ort zugeordnet. Paris oder Paris, Texas. Wo ist der Unterschied. Ich bin kein Reiseführer. Und ein Reisemuffel.
Ein Reflex gegen das Nirgendwo-Sein
Der Theaterkritiker der Wochenzeitung "Die Zeit", Peter Kümmel, hat im Secession Verlag eine sehr schöne Sammlung eigener Miniaturen unter dem Titel "Da Vinci erfindet einen Kieselstein" veröffentlicht, eine trägt die Überschrift "Augenblitz": "Ich war schwach und hilflos in der fremden Stadt, da habe ich meine Kamera aus der Tasche geholt und ein paar Fotos gemacht. Es half sofort. Das Fotografieren machte aus mir einen Mann, der Entscheidungen zu treffen pflegt."
Die Gedanken des Autors beim Blick auf das Fotografieren sind garantiert andere als meine, dennoch fühle ich mich angesprochen. Da ich mich auch in meiner mir nicht fremden Stadt als Fremder fühle, ist der Griff zum Taschentelefon mit eingebauter Kamera ein Reflex gegen das Nirgendwo-Sein. Gegen die Angst, im Nichts oder unter einem Kieselstein zu verschwinden. Kaum hast du ein Motiv ins Visier genommen und abgedrückt, bist du überzeugt wie ein Revolverheld, der sich für den Schuss entschieden hat: Diese Stadt hast du im Sack. Der Augenblitz hat eingeschlagen.
Die Neckarstraße führt tatsächlich ein Stück weit zum Neckar und damit, das wissen wir alten Binnenschiffer, geradewegs zur Nordsee. Ein Laden im Warmlaufbereich meiner Piste sollte deshalb niemanden irritieren: Er präsentiert "Mittelmeer-Feinkost", also andere Fische, als wir heimischen Freibeuter sie fangen.
Die Neckarstraße ist eine echte Stuttgart-Straße. Angelegt als Stadtautobahn, gesäumt von internationalen Läden und Kneipen. Eigentlich alles ganz schön bunt, aber hoffnungslos: Auf dieser Piste verrußt auch deine Seele. Lange hat die Eingangsschleuse namens Neckartor Schlagzeilen gemacht. Am Neckartor, in der Nachbarschaft einer weithin bekannten Umweltschutz-Organisation namens ADAC, ist eine Luftmessstation installiert. Wer sich in ihrem Dunstkreis aufhält, muss nicht länger zu Schnüffelstoffen greifen, um sein Bewusstsein zu erweitern. Die Behörden führen einen heldenhaften Kampf gegen die diesellastige Beweihräucherung der PS-geilen Bevölkerung, sie starteten sogar mal eine Operation mit einer Mooswand: sauteuer und wie geschaffen als Kulisse für ein apokalyptisches Schmierentheater. Ansonsten völlig nutzlos.
Fasching unter dem Motto "Achtung! Kurve links"
Seit bald zwei Jahren wohne ich im Umfeld dieser Gegend, was mir bis heute nicht richtig bewusst ist. Deshalb war es nötig, das Revier unter entschiedenem Einsatz meiner Taschentelefon-Kamera zu erobern. Anfangs der Straße knipse ich eine Fair-Trade-Boutique namens Schlechtmensch. Da ich von Mode nicht viel verstehe, spreche ich dem Laden allein deshalb meinen Respekt aus, weil uns der Begriff "Schlechtmensch" klarmacht, wie strunzdumm das Wort "Gutmensch" ist. Vielleicht ist dieses Ladenschild ein Beweis, dass einem eine Straße auch dann etwas zuflüstern kann, wenn wir ihre Geschichte nicht kennen.
Stuttgart hat keine Straße mit einem Mythos. Keine, die einem das Gefühl gibt, das Pflaster des Lebens mit seinen Abgründen zu betreten. Die Neckarstraße hätte vielleicht das Zeug dazu. Beim Spazierengehen allerdings überkommt dich die Furcht, im Angesicht des Auspuffs die letzten Tage der Menschheit zu erleben. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich auf dieser versifften Strecke regelmäßig nicht den Fluss, sondern das lebensrettende Wasser des Mineralbads Berg ansteuere.
1 Kommentar verfügbar
Walter Steiger
am 25.01.2023"Hats an der Neckarstraßen
Richtung Cannstatter Wasen
nicht früher den Rundfunk gegeben?
Sprang nicht daneben
ein Bach namens Nesen?
Nichts…