Selbst eine periphere Kolumne wie meine ist ein Wettbewerbsprodukt, auch wenn sie trotz aller Rentenungerechtigkeit nicht mehr für den Lebensunterhalt getippt werden muss. Zwar brüllt heute in der Redaktion kein Galeeren-Käptn mehr "In die Riemen, Hundsfott". Aber ein paar Online-Klicks sollte das Zeug schon einfahren. Schließlich leben wir im Kapitalismus, und den kannst du so lange greenwashen, wie du willst: Am Ende gewinnen immer Galeeren-Kapitäne und Rheinmetall.
So gesehen wäre es sogar für mein Nebengeschäft des Kolumnierens vorteilhaft, nur Stoffe in die Heißmangel zu nehmen, die "ankommen". Am besten flächendeckend. Nach dieser Marktregel könnte ich mich beispielsweise heute mit einem Stimmwunder namens Wendler und seiner geplatzten RTL-zwei-Doku beschäftigen, mit dem tödlichen Einfluss der Künstlichen Intelligenz auf meine Rentnerhirnreste – oder mit der serienmäßigen Pubertantenprosa eines Rathausdichters namens Nopper auf Facebook: "OB-Treffen am Ceresbrunnen in der Stuttgarter Markthalle: Die römische Göttin der Fruchtbarkeit passte sehr gut zu unserem fruchtbaren Gedankenaustausch mit 25 Oberbürgermeisterkolleginnen und -kollegen ...".
Unfruchtbar wie ich bin, vergesse ich solche naheliegenden Siegerthemen und widme mich stattdessen einer Sache, die in einer Kolumne mit dem Titel "Auf der Straße" einschlagen müsste wie ein abgeschossener Luftballon aus China: Ich gehe spazieren. Und gehe weiter und weiter, im Zweifelsfall übers Stuttgarter Mineralwasser, bis mich der Galeeren-Käptn nicht mal mehr mit dem Nachtsichtglas orten kann.
Schwarze Stiere und weiße Pferde auf endlosen Weiden
Eines muss freilich klar sein: Allmählich bin ich in einem Alter, in dem ich mich an die Taktik des erfahrenen Formel-1-Rennfahrers in seiner angeschlagenen Karre halte. Am Ende geht es nur noch ums "Ankommen": nicht etwa bei den Leuten, sondern im Ziel.
Neulich verbrachte ich ein paar Tage jenseits meiner üblichen Stadt, weil ich als Begleiter einer Freundin per Eisenbahn die Camargue ansteuern musste. Bemerkenswert vielleicht, dass wir nach der Ankunft in einem sehr kleinen Dorf weder Auto, Fahrrad noch Tretroller benutzten. Alle Strecken legten wir zu Fuß zurück, was im Übrigen nichts mit dem gerade herrschenden Generalstreik in Frankreich zu tun hatte. Nach und nach fiel mir auf, dass ich schon recht lange nicht mehr übers weite Land ins Nichts gestiefelt war. Unterwegs war kilometerweit nichts anderes zu sehen als schwarze Stiere und weiße Pferde auf endlosen Weiden. Und manche ewige Landstraße, von himmelhohen Bäumen eingezäunt, ließ mich schon mal fürchten, rein kräftemäßig nie mehr die Zivilisation zu erreichen. Dies könnte allerdings auch damit zu tun haben, dass ich in Geh-Pausen John Williams' Roman Butcher's Crossing las. Darin gehen vier Männer auf eine mörderische Büffeljagd in den Bergen, woran mich jeder Dorfmetzgerladen mit der Aufschrift "Boucherie" erinnerte.
Für einen Dörfler aus Stuttgart sind Stiere und Pferde, Wiesen und Bäume kein so ungewöhnlicher Anblick, dass er den Drang verspürte, darüber zu berichten. (Über meinen Besuch eines Stierkampfs in einer vollen Arena sage ich hier vorsichtshalber nix.) Was mich als Fußgänger unterwegs immer öfter beschäftigte, war die verlockende Aussicht, beim Gehen einfach rauszugehen: raus aus der Welt. Davonzulaufen. Für immer. Da draußen nämlich scheint alles in Ordnung zu sein, und womöglich wäre es Zeit für einen individuellen Generalstreik zur Durchsetzung einer Gehpflicht im Dienste der Entschleunigung.
Militant müsste dieser Streik sein wie bei den Franzosen, die nicht nur die Arbeit niederlegen, sondern Barrikaden aufstellen. Was habe ich denn für Gründe, bis ans nahende Ende meines Lebens vor idiotischen Tausend-PS-Autos und unkontrollierten E-Scootern zu flüchten, ehe mir in der sogenannten Stadtmitte ein aufgehängter Werbelappen von Breuninger weismachen will, "Flanieren" habe etwas mit dem Herumstolzieren zwischen "Marken" zu tun.
3 Kommentare verfügbar
akoe
am 22.03.2023