Aus aktuellem Anlass versuche ich mich heute an einem Erfahrungsbericht aus der Täterperspektive. Am 16. März wird die Künstler:innensoforthilfe Stuttgart drei Jahre alt. Bemerkenswert womöglich, weil ich der Sache anfangs nicht mehr als drei Monate gegeben habe.
Am 7. März 2020 war ich mit meinem Flaneursalon im Stuttgarter Stadtarchiv in Cannstatt. Im Vorfeld hatte der Abend heftig gewackelt, niemand wusste, wie lange noch Veranstaltungen stattfinden können. Ein tödliches Virus grassierte. Alle Welt sprach von Corona und Covid-19, und es war klar, dass ein Shutdown – auch Lockdown genannt – nur noch eine Frage von Tagen war. Diese Begriffe waren neu für uns, sie bedeuteten heftige Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zum Schutz des Lebens. Und ein Lockdown bedrohte Existenzen. Beispielsweise Menschen, die auf Publikum angewiesen sind. Künstlerinnen und Künstler und alle, die im Veranstaltungsbetrieb arbeiten.
Es war klar, dass die Musiker:innen im Flaneursalon bereits wenige Tage nach unserem Cannstatter Auftritt nichts mehr verdienen konnten. Staatliche Hilfe konnte nicht schon morgen kommen. Und weil Menschen in der sogenannten Kulturszene oft unter prekären Bedingungen arbeiten, haben sie kein finanzielles Polster.
Ohne Verein bist du eine Null
Wer regelmäßig bei politischen Aktionen mithilft, entwickelt eine Art Reflex, was zu tun, wenn was passiert. Ich meldete mich zunächst auf Facebook mit dem Vorschlag, in dieser Situation irgendwas zu unternehmen. Was genau, wusste ich noch nicht, hoffte allerdings, dass Solidarität mehr ist als eine Flugblattfloskel. Dann rief ich zwei der üblichen Verdächtigen an, den Linken-Stadtrat Tom Adler und den Filmemacher Goggo Gensch, die dabei sind, wenn es was zu tun gibt. Via Facebook meldete sich Peter Jakobeit, der sich im Verein Kultig e. V. für ein bedingungsloses Grundeinkommen engagiert. Das Grundeinkommen war zwar nicht mein Thema, aber ohne Verein im Rücken bist du hierzulande eine Null.
Am Montag, 16. März 2020, als der erste Lockdown ab 22. März beschlossen wurde, trafen wir uns mittags zu viert in der Altstadtkneipe Brunnenwirt. Wir nahmen uns vor, eine Spendenaktion für Menschen in der Kunst- und Kulturarbeit sowie für Studierende auf diesem Gebiet zu starten. Unser Startkapital – 5000 Euro – kam aus eigenem Anbau. Noch am selben Tag ließ ich einen E-Mail-Account einrichten und kaufte für unsere Initiative ein billiges Mobiltelefon. Nachmittags um vier erhielt der erste Musiker in Not von uns etwas Bares.
Nicht system-, sondern demokratierelevant
Das Geld für unsere Aktion wanderte fortan auf das Konto von Kultig e.V., dessen Vereinsstatuten wir von einem uns wohlgesinnten Steuerberater prüfen ließen. Die Bürokratie macht es einem nicht leicht, Spenden zu sammeln und weiterzugeben. Intern beschlossen wir mit Blick auf die Pandemie den Ausnahmezustand – und hofften auf ein Finanzamt, das mit einer toleranten Betrachtung des Lebens in Zeiten des Überlebens reagieren würde. Über soziale Medien informierten wir den Rest der Welt über unseren Plan. Umgehend meldete sich ein junger Genosse, er werde uns eine Webseite basteln. Solidarität ist nicht nur ein Wort. Das bestätigten uns später auch Institutionen wie die Staatsoper, das Kunstmuseum am Schlossplatz oder die Konzertdirektion Russ, die halfen, unsere Sache öffentlich zu machen. Fantastisch auch die stadtweite Plakatkampagne des Bureau Progressiv: "Beifall, Ausfall, Notfall".
Die ganze Aktion war ähnlich zustande gekommen wie eine Spontandemo. Hinter unserer Initiative steckte kein Marketing, sondern ein politischer Gedanke. Der schnell gewählte Name Künstler:innensoforthilfe Stuttgart vermittelte ein etwas schiefes Bild. Denn die Unterstützung war für alle in der Kunst- und Kulturarbeit gedacht: Technik, Gastro, Hilfskräfte. Und es sollte nicht um das Sammeln von Almosen gehen, sondern um ein kleines Zeichen: Das Wort "Kultur" steht nicht für Veranstaltungsbetrieb, sondern für eine Lebensart, und dazu gehören die Künste. Es ging uns gewissermaßen um die Verteidigung einer demokratischen Kultur, die auch ohne Corona ständig angegriffen wird: von Rassisten, Faschisten usw. Kunst hat nicht nur einem Wirtschaftsstandort zu dienen, sondern der Bildung und Aufklärung. Für eine halbwegs demokratische Gesellschaft unverzichtbar wie Lebensmittel. Das hässliche Pandemie-Wort "Systemrelevanz" mieden wir. "Kultur" gilt manchen politischen Kreisen nur als dekorativer Luxus. Entsprechend wird ein Theater gönnerhaft "subventioniert", während der Straßenbau als Menschenrecht gilt und "finanziert" wird.
Vom Kühlschrankfüllen auf die Straße
Es wäre übertrieben, unserer Mini-Initiative große politische Bedeutung beizumessen. In den Augen vieler Betroffener waren und sind wir kaum mehr als eine Abholstation, eine anonyme Benefiz-Bude. Mit meinen politischen Hinweisen hier wollte ich lediglich erklären, warum und wie alles anfing. Weshalb es Zusammenhänge gibt bei allem, was man tut.
Zum Alltag. Seit dem Brunnenwirt-Treffen stellt Peter Jakobeit sämtliche Überweisungen aus, inzwischen sind es rund 4.000; unsereiner macht die Öffentlichkeitsarbeit und prüft die Mail-Anfragen der Betroffenen. Einige Zeit musste sorgfältig recherchiert werden, weil nicht wenige versuchten, uns mit falschen Angaben – geliehenen Namen, Links auf fremde Homepages – zu täuschen. Davor ist man auch dann nicht sicher, wenn es um Nothilfen von nur 400 Euro geht. So viel bekommen im Schnitt Profis von uns, Studierende 300 Euro. Oft unterstützen wir auch nach individuellen Erfordernissen, so hielten wir einzelne wichtige Projekte mit stattlichen Summen am Leben. Gesetzlich sind wir der "Mildtätigkeit" verpflichtet. Die Basis für unsere Arbeit heißt Vertrauen. "Kühlschrankfüller des Südens", schrieb Anfang 2021 "Die Zeit". So sahen wir uns selbst. Da hatten wir schon 700.000 Euro verteilt.
Politisch aktiv wurden wir auch auf der Straße. Im Frühjahr 2021 konterte ich Mail-Anfragen von Studierenden etwas boshaft mit der Bemerkung, ob sie es richtig fänden, wenn Rentner für sie Geld sammelten, während sie selber schwiegen. Das Ergebnis war nicht nur ein hitziger Wortwechsel, sondern auch die gemeinsam organisierte Kundgebung "Studieren statt stagnieren" am 14. Juni 2021 auf dem Stuttgarter Karlsplatz. Dort kamen neben den finanziellen Problemen die großen psychischen Belastungen junger Menschen im Lockdown zur Sprache. Intensiv beteiligt waren wir auch an der Aktion "Rettet das Metropol" – für den Erhalt des denkmalgeschützten Veranstaltungsgebäudes.
Große Solidarität trotz politischer Uneinigkeit
Was uns in den Anfangstagen überraschte, war die enorme Hilfsbereitschaft. Neben vielen, teils hohen Einzelspenden gab es stattliche Beträge von Stiftungen und Firmen. Und immer wieder machte ich die Erfahrung, dass auch bei außergewöhnlichen Spenden politische Kontroversen keine Rolle spielten. Das Siedlungswerk Stuttgart, ein renommiertes Immobilienunternehmen, überließ uns mehr als 50.000 Euro mit dem Hinweis: "Wir sind die Guten." Einmal wurde ich von einer Stiftung eingeladen, die anonym bleiben möchte. Einer ihrer Köpfe sagte, er kenne mich gut, nämlich als Stuttgart-21-Gegner. Er sei auf der anderen Seite aktiv – na und. Im Übrigen kenne er mich besser, als ich wüsste: Wir hätten mal zusammen Fußball gespielt, in den siebziger Jahren. So funktioniert das Leben. 90.000 Euro überwies uns diese Stiftung (der Großteil des weltstädtischen Stuttgarter Gemeinderats dagegen ignorierte uns – zu links).
Jetzt, nach drei Jahren, leert sich unser Konto. Rund 1,6 Millionen Euro haben wir bis heute gesammelt und weitergeleitet. Inzwischen machen andere Probleme als Corona den Menschen zu schaffen. Der Krieg in der Ukraine. Die Inflation. Seit einiger Zeit verstehen wir uns nicht mehr nur als reine Pandemie-Nothilfe. Die Kostenkrise setzt vielen zu in der Kulturszene. Und nur mit Almosen ändern wir nichts. Es gäbe noch viel zu tun.
An diesem Freitag, 17. März gibt es zum dreijährigen Bestehen der Künstler:innensoforthilfe Stuttgart ein offenes Treffen im Bix Jazzclub. Gespräche, Begegnungen und Live-Musik mit: Kammersängerin Diana Haller (Staatsoper Stuttgart, Klavier: Vlad Iftinca), Jazzsängerin Cemre Yilmaz (Klavier: André Weiß), Popsängerin Eva Leticia Padilla (Gitarre: Dany Labana Martínez), Violinistin Martl Jäckel. Moderation: Katja Schmidt-Oehm/Stephan Moos (Theaterhaus). Einlass 18.30 Uhr. Anmelden kann man sich für zwei Euro hier.
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Christian Prechtl
am 16.03.2023