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Theaterstück "Liliom" im Stuttgarter "Penthouse"

"Meine Antwort heißt Queerness"

Theaterstück "Liliom" im Stuttgarter "Penthouse": "Meine Antwort heißt Queerness"
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Ida Liliom ist Queerdenkerin. Und direkte Nachfahrin jenes Jahrmarkt-Ausrufers, der Ferenc Molnár für sein Theaterstück "Liliom" als Vorbild diente. Das Citizen Kane Kollektiv beleuchtet die Geschichte neu.

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Die Wahrscheinlichkeit, dass das Citizen Kane Kollektiv der Ururenkelin jenes Liliom begegnen würde, der dem ungarischen Autor Ferenc Molnár, 1952 verstorben, als Vorbild für sein weltberühmtes Theaterstück diente, war statistisch gesehen gering. Aber Ida Liliom ist wie die Theatergruppe in Stuttgart unterwegs. Sie hat 2017 die Initiative Queerdenker* gegründet und sich mit Molnárs "Liliom" intensiv beschäftigt.

Liliom ist Ausrufer eines Karussells auf dem Jahrmarkt. Er ist liiert mit der Besitzerin, Frau Muskat. Doch dann beginnt er ein Verhältnis mit dem Dienstmädchen Julie, was unvermeidlich zu einer Eifersuchtsszene führt. Liliom kündigt, Julie wird schwanger. Liliom freut sich nicht. Er schlägt sie. Statt einen Job anzunehmen, lässt er sich zu einem Raubüberfall anstiften. Als der misslingt, erdolcht er sich.

Das Citizen Kane Kollektiv hat mit Ida Liliom nun eine neue Version erarbeitet. Zwischen Rave und Theater: Dafür könnte es kaum einen spektakuläreren Ort geben als die seit drei Jahren leer stehende Großraum-Disko Penthouse im Industriegebiet Feuerbach. Aus dem großen Oval an der Stirnseite fällt der Blick auf die sechsspurige B27: links weiße Scheinwerfer, rechts rote Rücklichter, hinten der Pragsattel, wo der Hochbunker mit seinen Leuchtreklamen neuerdings vom Porsche Tower in den Hintergrund gedrängt wird.

Mix aus Rave und Theater

Am Freitag war Premiere, weitere Aufführungen folgen an den nächsten Tagen. Vor der Generalprobe am Vortag, zu der bereits viele junge Leute eingeladen waren, bot sich Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ida Liliom, Regisseur Christian Müller, Vange und Paluna: in einer schummrigen Sitzecke des zentralen Raums der Diskothek, der mit seinen Arkaden an ein maurisches Bad erinnert.

Vange und Paluna heißen mit bürgerlichem Namen Evangelos Golemi und Erika Palnau. Sie sind das trabanten.kollektiv und für die Musik und das Bühnenbild verantwortlich. Links hängt an Ketten eine Schaukel in der Größe eines französischen Betts von der Decke herab. Rechts steht ein würfelförmiges Haus: das traute Heim von Julie und Liliom – wenn er denn mal zuhause wäre. Die Szenen im Inneren des Hauses werden von einer Kamera aufgenommen und auf die Außenhaut projiziert.

"Man kann Techno Raves auch mit einem Opernbesuch vergleichen", formuliert Vange und fragt: "Was bedeutet Kultur?" Um gleich selbst zu antworten: "Alles, was der Mensch bewegt und erschaffen hat." Er erzählt, wie sie bei Raves im Wald darauf achten, den Gästen den Weg gut zu beschreiben, und ihnen Wasser anbieten, "damit sie nicht zu saufen brauchen". Auf privaten Gartenpartys haben sie angefangen. Inzwischen legen sie auch in Clubs wie dem White Noise oder Fridas Pier auf.

Mit dem Mix aus Rave und Theater spricht das Citizen Kane Kollektiv ein junges Publikum an, das vielleicht noch nie im Theater war. Vange und Paluna sind in der Stadtbahn mit zwei 15- und 16-Jährigen ins Gespräch gekommen. "Die waren voll begeistert", erzählt Vange. Aber auch viele ältere Besucher seien neugierig, interveniert Müller. Für sie verhält es sich genau umgekehrt: Sie wollen sehen, was ein Techno Rave ist. Als "kommunikatives Herzstück" zwischen den Aufführungen gab es von Montag bis heute das Festival "In:between": für den "generationenübergreifenden Austausch", mit einem DJ-Workshop für FLINTA*, Krav-Maga-Selbstverteidigung und einer Podiumsdiskussion.

Liliom als Beispiel für toxische Männlichkeit

Was aber sind FLINTA*? Ausbuchstabiert Frauen, Lesben, Intersexuelle, Nicht-Binäre, Trans- und Agender-Personen. Das Sternchen will sagen, dass auch alle anderen angesprochen sind, die sich nicht zu den cis-heterosexuellen Männern zählen. "Cis" wiederum ist der Gegensatz zu "trans" und steht damit für Menschen, die sich mit ihrem eingetragenen Geschlecht identifizieren. "Es kommt nicht auf die Buchstaben an", beschwichtigt Ida Liliom, "sondern darauf, was damit gemeint ist." Nämlich: "Alle Personen, die im patriarchalen System, das wir immer noch haben, Schutz brauchen."

Einlass ist ab 20 Uhr, doch das Theater beginnt erst eine Stunde später. Vange heizt ein mit Techno-Rhythmen. Menschen kommen und gehen, fallen sich um den Hals, tanzen ein wenig. Auch die Schauspieler.innen sind dabei, zu erkennen am kleinen Mikrofon vor dem Mund. Doch sie sagen noch nichts. An den Toiletten steht FLINTA* und All Gender. Zwischen den maurischen Säulen ist eine Ausstellung aufgebaut. Zwei junge Frauen sitzen im Bällebad.

Endlich ist es so weit. "Um Verzeihung bitten habe ich nicht gelernt", sagt Liliom gleich zu Beginn. Das entspricht der Ankündigung: "toxische Männlichkeit". "Von Dominanz geprägte Verhaltensmuster und gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen", definiert Wikipedia. Liliom wird hier von drei Schauspielern gespielt, um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um ein individuelles, sondern um ein strukturelles Problem handelt. Die drei Lilioms erstechen sich am Ende gegenseitig. Das passt besser zu toxische Männlichkeit, als wenn einer allein seinem Leben ein Ende setzt.

"Er war charmant", erinnern sich die Protagonistinnen des Stücks. "Die Frauen haben das gespürt." Sie wissen aber auch: "Er hatte ein Ego-Problem. Die Frauen haben das zu spüren bekommen." Wie Julie allein ihre Tochter großgezogen hat, steht nicht in Molnárs Text. Er zeigt nur die männliche Perspektive. Hier kommt dagegen die Sicht der Frauen zu Wort, eben die von Ida Liliom, die rechts im weißen Hosenanzug an einem Pult steht. Sie spielt eigentlich keine Rolle, sondern kommentiert das Stück, reflektiert und erzählt aus ihrer Familiengeschichte.

"Hast du zurückgeschlagen?"

"Ich hab' keine Ahnung davon, wie das mit dieser Männlichkeit aussieht", bekennt sie. "Aber noch weniger Ahnung hab' ich davon, was eine selbstbestimmte Weiblichkeit sein könnte." Das Stück klagt nicht an, sondern zeigt wie jedes gute Theater Widersprüche auf. "Du willst ihn auch nicht. Du willst nur das da", hält ihre Freundin Marie Julie vor. "Please take me", singt Julie – und nach diesem ersten emotionalen Höhepunkt übernimmt der DJ. Manche tanzen. Andere denken nur nach.

"Letzten Montag hat er mich sogar geschlagen", kommt Julie auf das Thema des Stücks zu sprechen. "Hast du zurückgeschlagen?" fragt Marie. Das steht so nicht in Molnárs Textvorlage. Julie wehrt sich nicht. Sie verteidigt Liliom sogar.

Ida Liliom kennt solche Ambivalenzen. Eigentlich habe sich die Geschichte in ihrer Familie von Generation zu Generation wiederholt. "Als Kind war ich oft bei meinem ungarischen Opa", erzählt sie. "Der hat mir die Theaterplakate von Liliom gezeigt." Der Opa war Trickfilmer. Im Stück sind Filmausschnitte zu sehen. Als ihr Vater starb, war sie elf Jahre alt. Töchter von Vätern, die ein Alkoholproblem haben, sagt sie im Stück, geraten zu 80 Prozent wieder an ebensolche Männer.

1909 in Budapest uraufgeführt, kam "Liliom" zunächst nicht an. Erst die Wiener Premiere vier Jahre später begründete den Ruhm des Stücks, das weltweit Karriere machte. Hans Albers, Harald Juhnke und Curd Jürgens haben den Liliom gegeben, Ingrid Bergman in einer amerikanischen Inszenierung die Julie, Hanna Schygulla in der von Rainer Werner Fassbinder. Fritz Lang hat den Stoff im französischen Exil verfilmt, mit Antonin Artaud in einer Nebenrolle. Das Musical "Carousel" mit der Fußball-Hymne "You never walk alone" ist eine Adaptation von Liliom. Von John Neumeier gibt es eine Ballett-Version.

Teufelskreis von männlicher Gewalt und Abhängigkeit

Aber Gewalt gegen Frauen zu entschuldigen geht heute nicht mehr. Schon in einer Inszenierung in Salzburg vor vier Jahren gab es einen Safe Space. Als "High-Tech-Beitrag zur 'Me Too'-Debatte" bezeichnete die "Süddeutsche Zeitung" die Aufführung. Es geht auch ohne High Tech. Die ehemalige Großraumdisko bietet eine atemberaubende Kulisse, das Bühnenbild und die Techno-Einlagen des trabanten.kollektivs öffnen einen Raum: zur Reflexion über das Stück und die Aussagen von Ida Liliom.

"Lass ihn laufen", rät Marie. "Ich sag dir, lass ihn laufen." Das will Julie nicht. Wie kann man – oder besser: frau? – dem Teufelskreis von männlicher Gewalt und Abhängigkeit entkommen? "Meine Antwort heißt Queerness", erklärt Ida Liliom. Was aber heißt genau queer? Wörtlich schräg, eigenartig, mögen viele zunächst an den Christopher Street Day und schrille Kostümierungen denken. Eigentlich steht queer aber seit Erscheinen des Buchs "Gender Trouble" von Judith Butler im Jahr 1990 für alle, die sich nicht mit den überkommenen Rollenbildern identifizieren.

Queer: "Das bedeutet so viel wie befreit von Normen von Geschlechtlichkeit und Sexualität und Identität", definiert Ida Liliom im Gespräch mit Regisseur Christian Müller und Thomas Milz in der Staatsgalerie vor zwei Jahren, wobei "die Norm Heterosexualität ist, Cis-Geschlechtlichkeit, das heißt, man ist im richtigen Körper, der einem zugeordnet wurde". Sie fügt aber hinzu: "Man muss nicht selber queer sein, damit Queerness wichtig ist. Ich glaube, dass fast jeder Mensch unter dem Patriarchat leidet und unter den festgeschriebenen Normen, die normal sein sollen."


Info:

Am heutigen Mittwoch, 22. März um 19.30 Uhr gibt es eine Podiumsdiskussion zum Thema "Frau werden, Frau sein, Frau behaupten, Frau loslassen". Die drei noch folgenden Vorstellungen waren bereits vor der Premiere schon beinahe ausverkauft: Donnerstag, 23. März ab 18 Uhr (auch für Jüngere), Freitag, 24. und Samstag, 25. März jeweils ab 20 Uhr.


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1 Kommentar verfügbar

  • Stefanie Schöbel
    am 24.03.2023
    Antworten
    Die stinknormale Hetero-Dreiecksgeschichte neu inszeniert und schon ist alles queer.
    FLINTA oder queer sind nur noch inhaltsleere Phrasen denn alle dürfen jetzt mitmachen.

    "Queer: "Das bedeutet so viel wie befreit von Normen von Geschlechtlichkeit und Sexualität und Identität"," - nein bedeutet…
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