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Uni Stuttgart

Glaube, Liebe, Hetze

Uni Stuttgart: Glaube, Liebe, Hetze
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Ein Philosoph der Universität Stuttgart provoziert seit Jahren mit christlich-fundamentalistischen Äußerungen. Was die von ihm beschworene "Cancel Culture" und Diktatur des "woken Mobs" angeht, kann es aber nicht so schlimm stehen. Als sich Studierende über ihn beschweren, passiert: gar nichts.

An der Fakultät 9 der Universität Stuttgart geht das Gespenst der Cancel Culture um. Ein kleiner Zusammenschluss von Studierenden hatte sich im Sommer dieses Jahres am Institut für Philosophie über einen christlich-fundamentalistischen Instituts-Mitarbeiter beschwert, der seit zwei Jahren öffentlich als rechter Scharfmacher auftritt. Seitdem geht an der Uni die Angst um, sich gegenüber einem Angestellten "links-grüner" Meinungsdiktatur schuldig zu machen.

Was ist passiert? Sebastian Ostritsch ist passiert. Jahrgang 1983. Promovierter Philosoph, der gerade an seiner Habilitation und Karriere bastelt. Hegel-Experte. Computerspielfan. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Stuttgart. In seiner Funktion als Stuttgarter Philosoph wird er in der Stadt immer wieder eingeladen, etwa um als "Freund des Hauses" im Stuttgarter Hegel-Haus aus seinem aktuellen Buch vorzulesen. 2021 trat er gemeinsam mit Oberbürgermeister Frank Nopper, Stadtdekan Christian Hermes und anderen regionalen Würdenträgern beim Jahresempfang der katholischen Kirche als Hegel-Experte auf. Auch das linke Bürgerprojekt "Die Anstifter" hatte ihn in der Vergangenheit schon zu Vorträgen im "Philosophischen Café" eingeladen. Wenn's um Hegel geht, macht dem volltätowierten Geisteswissenschaftler in Sachen Vernunft so schnell niemand was vor.

In seiner Freizeit hat Ostritsch mit Vernunft nicht so viel am Hut. Da dämonisiert der mehrfache Vater auf Twitter Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden und sich so am "evil of abortion" schuldig machten. Verteidigt Weltanschauungen, die "Gottesrechte" statt Menschenrechte propagieren und die Französische Revolution zugunsten der Herrschaft von Klerus und Monarchie beendet sehen wollen. Oder hält den synodalen Weg der katholischen Kirche zur Reform einer missbrauchsfördernden Kirchenkultur für eine "Farce". Immer schön verpackt in intellektuell aufgeladener, rechtlich unbedenklicher Form, sodass Kritik an der impliziten Menschenfeindlichkeit im Zweifel immer als Sinnentstellung oder Dekontextualisierung bezeichnet werden kann.

Ostritsch fühlt sich von der "Meinungsmafia" verfolgt

Ostritschs "geistliche Heimat", so schreibt er über sich selbst in der September/Oktober-Ausgabe 2022 des erzkonservativen "Vatican-Magazin", sei die Petrusbruderschaft – eine Kaderschmiede fundamentalistischer Katholiken, in der auch schon mal Rechtsextreme und religiöse Eiferer zusammen in einer reaktionären Parallelwelt eine "konservative Gegenrevolution" geplottet haben, um "die linke Dominanz" mit einer "politischen Theologie" zu brechen. Davon schreibt Ostritsch nichts im "Vatican-Magazin". Seine Sprache ist subtiler: Die katholische Kirche sei "eine der letzten authentischen Kräfte, die dem allgemeinen kulturellen und geistigen Zerfall des Abendlandes Widerstand leistete".

Und weil Ostritsch gut mit Sprache kann und weiß, welche Knöpfe er drücken muss, fühlt er sich, wie alle Rechten, die öffentlich Stimmung machen, von einer "woken Meinungsmafia" verfolgt. In seinem Text "Die neue Herrschaft der Gefühle" in "Corrigenda" – einem Online-Magazin von religiösen Abtreibungsgegnern – schreibt er darüber, wie "rechtlich gänzlich unbedenkliche Aussagen [...] von einer kleinen, aber lautstarken Gruppe öffentlich skandalisiert" und Wissenschaftler gegenüber ihrem Arbeitgeber, der Universität, denunziert würden. In einem weiteren Text desselben Mediums lässt er sich über "bornierte Mundtotmacher" aus, die "vor allem von links kommen" und durch "Political Correctness" an "der grassierenden Boykottunkultur unserer Zeit" schuld seien – während er selbst mit einer "Einschränkung des Sagbaren" und einem "Blasphemieverbot" sympathisiert. Es gebe eben "Werte und Mächte […], die uns übersteigen und daher von uns auch mit der entsprechenden Ehrfurcht behandelt werden sollten", schreibt Ostritsch.

Zu diesen Werten zählt der geistlich Erweckte denn auch die "katholische Sexuallehre", über die er sich in seiner persönlichen Erweckungsgeschichte und Wiederversöhnung (Ostritsch war zwischenzeitlich von Gottes Wegen abgekommen) mit der katholischen Kirche im "Vatican-Magazin" äußert: "Damals sah ich nicht, dass dem HI-Virus Einhalt geboten gewesen wäre, wenn sich die Betroffenen, die angeblich nur auf das Papstwort zum Präservativ warteten, einfach an die katholische Sexuallehre, die Keuschheit und Enthaltsamkeit vor der Ehe vorschreibt, gehalten hätten." Auch Masturbation sei Sünde. Das schreibt er nicht selbst, teilt auf Twitter aber kopierte Textfetzen aus frommen Büchlein, die Masturbation wieder "zu brandmarken" – schön "rechtlich gänzlich unbedenklich".

Sind Homo-Eltern dreibeinige Katzen?

So auch sein Auftritt im Juni dieses Jahres in einem Interview der "Demo für alle" – einer rechtskonservativen, von Beatrix von Storch (AfD) mitgegründeten Organisation, die vor einigen Jahren mit großem Tamtam gegen "sexuelle Vielfalt" im Schulunterricht mobilisierte. Im Gespräch mit der Geschäftsführerin von "Demo für alle", Kerstin Kramer, über "Abstammung", "Wokeness" und die Bedeutung der (heteronormativen) Familie für Kinder, tritt Ostritsch als Mitarbeiter der Universitär Stuttgart auf und verleiht rechten Verschwörungsideologien wissenschaftlichen Anstrich. Auch hier achtet Ostritsch stets auf "rechtlich gänzlich unbedenkliche" Formulierungen und verschleiert durch philosophische Exkurse inhaltliche Zusammenhänge. Etwa wenn er im Interview mit einer homo- und transphoben Organisation plötzlich anfängt, über Katzen mit drei Beinen zu referieren, die nicht "normal" seien, und alternative Familienkonstellationen: "naturrechtlich hoch problematisch und ethisch falsch".

Die Studierenden der Fakultät an der Uni Stuttgart, die sich über Ostritsch beschwerten, haben all das dokumentiert und in einem 17-seitigen Informationsschreiben an der Uni verteilt. Ostritsch favorisiere "vorbürgerliche politische Lebensformen, die von klerikalen Gesetzen bestimmt" seien, sowie auf "patriarchalen Hierarchien basieren". "Wenn sich fundamentalistische Minderheiten für Vertreter einer schweigenden Mehrheit halten und entsprechend agieren", so die Befürchtung der Verfasser:innen, "mündet dies oft in verbale und tätliche Angriffe gegen Andersdenkende". Das zeigten "Angriffe auf Abtreibungs- oder Impfbefürworter_innen", mahnen sie. Derlei diskriminierende und "einschüchternde Handlungen, die auch auf Weltbildern wie den von Herrn Ostritsch vertretenen basieren", seien "der Entfaltung freier partizipativ-demokratischer Verfahren abträglich".

Man wolle deshalb von der Uni wissen, was sie tun will, um "derlei Weltbilder zu korrigieren und demokratische Verfahren sicherzustellen". Als das Papier der Studierenden-Gruppe die Runde machte, klappten reihenweise Kinnladen herunter. Schock. Denn was Ostritsch außerhalb der Uni als Vertreter der Uni von sich gibt, wussten die Wenigsten. Doch auf die aufgerissenen Augen diverser Instituts-Mitglieder folgten Sorgenfalten.

Prophylaktische Kritik-Immunisierung

Falten wegen des medial hochgejazzten Geplärres über "Cancel Culture" und der "grassierenden Boykottunkultur", die Ostritsch inmitten der Geschehnisse in seinen Texten über "Cancel Culture" an Universitäten auf "Corrigenda" beschwor: Ostritschs Ansicht nach seien Verantwortliche an Universitäten "zu feige", "um dem Mob entgegenzutreten, weil sie fürchten, […] als nächstes des Hasses, der Hetze und der Diskriminierung bezichtigt zu werden", oder weil sie bereits selbst die "Ideologie der Erwachten" verinnerlicht hätten. Ein cleverer Schachzug, um einer potentiellen internen Diskussion mit prophylaktischer Kritik-Immunisierung entgegenzutreten.

Dabei ist das Gespenst der "Cancel Culture", wie es von Rechten und Konservativen strategisch durchs Land getrieben wird, nichts anderes als medial unterstützte Spiegelpropaganda: Man unterstellt anderen, oft marginalisierten Gruppen, was man selbst mit ihnen vorhat – nämlich sie aus der Gesellschaft zu drängen. Der Skandal ist nicht, wie Ostritsch schreibt, dass Menschen durch "rechtlich gänzliche unbedenkliche Aussagen" zu Personae non gratae skandalisiert würden. Der Skandal ist, dass Menschen, die öffentlichkeitswirksam menschenfeindliche Aussagen tätigen, als die mit dem "normalen Menschenverstand" gelten können. Diskursverschiebung, die es selbst Faschisten ermöglicht, sich zu Opfern zu stilisieren.

Wie gut diese Spiegelpropaganda funktioniert, konnte man bereits schon vor über zehn Jahren beobachten, als der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin rassistische und antisemitische Schwurbeleien in die Welt blies. Mit Hilfe von Konservativen aus Politik und Medien wurde der deutsche Urvater der "unbequemen Wahrheiten" zu Mister "Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen". Mit Sarrazin und später der AfD wurde Ausländerhass wieder diskursfähig und die Kritik daran als "links-grün versiffte", "politisch-korrekte Meinungsdiktatur" zum wahren Problem erklärt. Und obwohl sich angebliche Opfer von "Cancel Culture" ständig selbst performativ widersprechen, indem sie auf unzähligen Plattformen endlos darüber schwadronieren, dass sie zum Schweigen gebracht würden, funktioniert ihr Geschrei.

Das Dokument über die Causa Ostritsch landete im Oktober für kurze Zeit auf der Website der Stuttgarter Bürgerinitiative "Die Anstifter", wohl um die Verfasser:innen darin zu unterstützen, Aufklärung und eine öffentliche Diskussion einzufordern. Kurz nach Veröffentlichung war das Dokument wieder verschwunden. Auseinandersetzungen innerhalb des betroffenen Instituts der Universität hatten dazu geführt, dass die Vorwürfe gegen Ostritsch von der öffentlichen Bildfläche verschwanden, die Causa sollte intern geklärt werden. Auf Kontext-Anfrage heißt es vonseiten der Uni, die sich als staatliche Arbeitgeberin verständlicherweise öffentlich vor ihren Mitarbeiter stellt, dass sich Ostritsch "rechtlich nichts zuschulden" habe kommen lassen. Man wolle ihn "aushalten".

Diversität gilt auch für rechte Christen

Selbst von der Stelle "Diversity und Internationales" der Universität Stuttgart heißt es auf Kontext-Anfrage von der Diversity-Beauftragten und Prorektorin Silke Wieprecht: "Herr Ostritsch spricht öffentlich, auch in den Sozialen Medien, nicht im Namen der Universität Stuttgart. Bezüglich privater Einstellungen haben wir keine Handhabe. Es gibt rechtliche Vorgaben, diese gelten für alle Angestellten und an diese halten wir uns." Der Forderung der Studierenden nach Aufklärung und Diskussion wurde nicht nachgekommen. Ein Gespräch zwischen Rektorat, Fakultätsleitung und dem Philosophen hat nie stattgefunden.

Dass der öffentlich als Angehöriger der Universität auftritt und seine universitäre Reputation nutzt, um Organisationen, die gegen Diversität mobilisieren, propagandistisch zu unterstützen – das weiß auch die Uni. Doch "Diversität und Offenheit" bedeute auch, "es auszuhalten, wenn andere Positionen vertreten werden als die eigenen, sofern dies nicht gegen geltende Gesetze verstößt", schreibt die Diversity-Beauftragte. Sich weiter zu internen Vorgängen zu äußern sei "nicht zielführend", die Universität wolle jedoch ihr "Bestmögliches tun, um Diversität an der Universität Stuttgart zu schaffen und zu leben".

So schlimm ist er also, der "woke Mob". So "borniert" sind die "Mundtotmacher" – also diejenigen, die es nicht hinnehmen wollen, dass vordemokratische Positionen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs in Richtung Mitte verschoben werden: Sie schützen denjenigen, der dafür sorgen will, dass menschenfeindliche Positionen normalisiert werden.

Und die Studierenden des Instituts? Die müssen jetzt, weil ihre Uni Angst vor einer öffentlichen Auseinandersetzung hat, ebenfalls aushalten, dass an ihrem Institut weiterhin ein katholischer Fundamentalist von Frauen fabuliert, die Unheil stiften, wenn sie abtreiben. Vom Zerfall des Abendlandes. Oder von dreibeinigen Katzen. In Stuttgart wurde jedenfalls niemand gecancelt. Was der liebe Gott im Himmel mit Sebastian Ostritsch vorhat – das weiß der Teufel. Auf Kontext-Anfrage, wie er die Vorwürfe gegen ihn denn einordnen würde, kam nie eine Antwort.


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5 Kommentare verfügbar

  • Wolfgang Helbig
    am 27.12.2022
    Antworten
    Wie sollen wir wissen, was sie wissen, ohne zu werden, wie sie sind?
    Dies fragt sich ein ehemaliger Nachberufsstudent der Philosophie an der Uni Stuttgart.
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