Sogar nach Afghanistan, das schon vor dem Putsch der Taliban vom Bürgerkrieg zerrüttet war, wollte das Land trotz Pandemie weiter abschieben – und wieder einmal musste der VGH Mannheim einschreiten: "Derzeit darf auch ein alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger, erwachsener Mann regelmäßig nicht nach Afghanistan abgeschoben werden, weil es ihm dort angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der COVID-19-Pandemie voraussichtlich nicht gelingen wird, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen", lautete das Urteil zum Abschiebestopp.
November 2021: Auf Bundesebene wird im Koalitionsvertrag der Ampel unter grüner Beteiligung sogar eine "Rückführungsoffensive" angekündigt, "um Ausreisen konsequenter umzusetzen", denn: "Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben."
Das Fallbeil des Parteiausschlusses
Nicht nur bei der Fluchtpolitik klaffen grünes Ideal und regierende Realität teilweise weit auseinander. Trotz betont feministischem Profil wartet Baden-Württemberg noch immer auf eine Wahlrechtsreform, die mehr Frauen ins Parlament bringt. Bis heute sind weniger als 30 Prozent der Abgeordneten weiblich. Und wo der Einsatz für Bürgerrechte zum Markenkern der Partei gehören soll, ist es ausgerechnet das Bundesland, in dem die Grünen den Ministerpräsidenten stellen, das sich eines der weitreichendsten Polizeigesetze gab – um es nach wenigen Monaten schon wieder zu verschärfen.
Dafür braucht es eine gewisse Beweglichkeit der Verantwortlichen. Und während es auch im Land talentierte Verrenkungskünstler gibt, hat das geschmeidigste Überbordwerfen zu Ballast gewordener Überzeugungen Robert Habeck gemeistert, der die friktionslose Kehrtwende perfektionieren konnte. Nicht nur, wenn er nach Gesprächen mit Unternehmen eine Standpunktumkehr bei der Patentfreigabe für Corona-Impfstoffe hinlegt und in der Folge längst widerlegte Argumente der Pharmalobby nachplappert. Erst recht, wenn er als Umweltminister von Schleswig-Holstein gegen Fracking kämpft und, nachdem er es im Windschutz der Klimabewegung zum Bundeswirtschaftsminister gebracht hat, eine "Flüssiggas-Offensive" startet – wohlgemerkt schon Ende Januar 2022, bevor Russland die Ukraine angriff.
Nun ist es weder neu noch originell auf die Flexibilität der Grünen hinzuweisen. "Ihre Krankheit heißt Bigotterie", war schon 1990 in der "Zeit" zu lesen. "'Menschlicher Umgang in der Politik', riefen sie – und schlugen, wie es in Bonn so üblich ist, den eigenen Parteifreunden unter die Gürtellinie. 'Rotation nach zwei Jahren', predigten sie – und planten kühl ihre Kandidatur für die nächste Legislaturperiode. 'Parteistiftungen korrumpieren', erklärten sie treuherzig der Öffentlichkeit – und schrieben die Satzung für eine eigene Stiftung." Und als ein gewisser Winfried Kretschmann sich damals als Landtagsabgeordneter dafür aussprach, Sondermüll verbrennen zu lassen, musste er erfahren, dass "der grüne Parteiapparat unkonventionelle Initiativen unerbittlich abstrafen" wird. In der Folge schwebte über ihm "das Fallbeil des Parteiausschlusses".
Kröten schlucken müssen sie alle
Für grüne Politik "muss man auch bereit sein, Kröten zu schlucken", wusste Rezzo Schlauch bereits in den 1980er-Jahren – und er weiß durchaus, wovon er spricht. Als Politiker gestartet, ist er wie so viele zum Lobbyisten geworden. Unter anderem saß er dabei mit dem langjährigen Vorstandsvorsitzenden von Porsche, Wendelin Wiedeking, im Aufsichtsrat der Agentur WMP EuroCom, die hinter der Aktion "Drachenblut für Wirecard" steht: Der aufgeflogene Hochstaplertrupp und Börsenriese sollte, bevor das Verschwinden von 1,9 Milliarden Euro publik wurde, für ein Basishonorar von 420.000 Euro pro Jahr mit Methoden wie einer schwarzen Liste von Journalisten, vor denen es sich zu hüten gilt, "unverwundbar" gemacht werden.
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Wolfgang Jaworek
am 05.03.2022