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Politik in Wort und Tat

Die doppelten Grünen

Politik in Wort und Tat: Die doppelten Grünen
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Palmer, der Brückenbauer – so charakterisiert der alt-grüne Wirtschaftsanwalt Rezzo Schlauch seinen vom Rauswurf bedrohten Mandanten in der Verteidigungsschrift gegen die eigene Partei. Aus jeder Zeile spricht ein tiefer Frust über den Stand der Debattenkultur und Politik als Konsensveranstaltung.

Eine "narkotisierende Geschlossenheitskultur" attestiert Rezzo Schlauch der Partei, für die er früher als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium saß. Und dort, wo er sich den diskussionsfreudigen Streit zurückwünscht, der die Grünen in der Gründungsphase charakterisiert habe, sieht er heute eine "verordnete Friedhofsruhe". Darüber, beklagt sich der Anwalt, "können auch nicht die mit Stolz verkündeten 3.000 Änderungsanträge auf dem Wahlprogramm-Parteitag hinwegtäuschen, die im Vorfeld von der Parteitagsregie koordiniert und glattgebügelt wurden und dann ohne nennenswerte streitige Diskussionen durchgewunken wurden". Und noch einmal nachgetreten: Mit diesem Vorgehen werde "die immer Mantra-mäßig vorgetragene Melodie, wonach die Grünen DIE weltoffene, DIE meinungsstarke, DIE diskussionsfreudige und DIE Partei der Diversität sei, konterkariert".

Wo alle erfolgsorientierten Ratgeber für politische Kommunikation darauf drängen, internen Streit nicht nach außen zu tragen, sind dermaßen deutliche Abrechnungen mit der eigenen Partei selten geworden. Zumindest dort, wo diejenigen, die Vorwürfe vortragen, noch Mitglieder sind und das auch bleiben wollen. Das trifft sowohl auf Rezzo Schlauch zu wie auch auf seinen Mandanten Boris Palmer, den die grüne Landesspitze rausschmeißen will und den der Anwalt angriffslustig verteidigt (Kontext berichtete).

Die schwelende Auseinandersetzung um das Sagbare bietet eine Bühne, besonders scharf zu formulieren. Doch beide haben schon vor Jahren ihrer Sorge um sich ihrer Ansicht nach verengende Meinungskorridore und politisch zu korrekte Diskussionen Ausdruck verliehen. Palmer begab sich dafür in die Gesellschaft illustrer Figuren wie Harald Martenstein, Albrecht Müller, Sucharit Bhakdi, Rainer Meyer ("Don Alphonso"), Vera Lengsfeld und Boris Reitschuster, mit denen er zu den Erstunterzeichnern des "Appells für freie Debattenräume" gehört, einem Manifest gegen "Cancel Culture". Und Schlauch schrieb bereits im 2017 erschienenen Buch "Keine Angst vor der Macht", die Kommunikationskultur der Grünen sei in der Anfangszeit "nicht an den Gesetzen der Medien ausgerichtet gewesen", aber: "In der Zwischenzeit fällt sie ähnlich glatt und verwechselbar aus."

Nun klagen hier zwar durchweg Leute, die mit ihren Äußerungen und Positionen eine beträchtliche Reichweite erzielen. Doch laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie haben, Stand 2021, nur noch 45 Prozent der Bevölkerung in Deutschland das Gefühl, die politische Meinung könne frei geäußert werden, der niedrigste Wert seit 1953. Boris Palmer sei da ein "Brückenbauer", schreibt Schlauch in seiner Verteidigungsschrift – und das ist, vor dem Hintergrund eines drohenden Ausschlusses und diverser Äußerungen, die viele Menschen verletzt haben, eine durchaus gewagte Interpretation. Allerdings zeigen die Zahlen überdeutlich, dass das Thema etlichen unter den Nägeln brennt, womit in einer Demokratie klar sein sollte, dass dringend Diskussionsbedarf besteht.

Abschiebemeister Baden-Württemberg

Mitunter ist das Wort heute wichtiger als die Tat. Und gerade am Konflikt zwischen Palmer und den Grünen wird das greifbar. Dem Tübinger Oberbürgermeister hatte die Landesspitze der Partei unter anderem aufgrund seiner Aussagen zu Migration und Politik vorgeworfen, mit Rassismus zu kokettieren und Ressentiments zu schüren. In der Praxis aber zählt Tübingens Umgang mit Geflüchteten zum besten, was Baden-Württemberg zu bieten hat – während die grün geführte Landesregierung erst kürzlich vor dem Mannheimer Verwaltungsgerichtshof (VGH) unterlegen war, weil Geflüchtete erfolgreich gegen grundrechtswidrige Unterbringungsbedingungen in der Sammelunterkunft LEA Freiburg geklagt hatten (dazu berichtet in dieser Kontext-Ausgabe umfangreich Fabian Kienert).

Im Ausschlussverfahren wird Palmer ein Interview zur Last gelegt, in dem er eine Obergrenze für Flüchtlinge gefordert habe. Gesagt hat er: "Wir befinden uns in einem Dilemma: Wir haben nicht genug Platz für alle Flüchtlinge. Und deshalb müssen wir eine klare Trennung vornehmen zwischen den Flüchtlingen vom Balkan, die gute Gründe haben, um nach Deutschland zu kommen, und den Kriegsflüchtlingen, die eben noch bessere Gründe haben." Diese Position muss sich niemand aneignen. Es genügt, zur Kenntnis zu nehmen, dass kein Bundesland mehr Menschen auf den Balkan abschiebt als Baden-Württemberg. In einem Fall endete das tödlich: Der herzkranke Sali Krasniqi wurde nach 29 Jahren in Deutschland in einen Flieger gesetzt und starb infolge einer mangelhaften medizinischen Versorgung im Kosovo (Kontext berichtete).

Sogar nach Afghanistan, das schon vor dem Putsch der Taliban vom Bürgerkrieg zerrüttet war, wollte das Land trotz Pandemie weiter abschieben – und wieder einmal musste der VGH Mannheim einschreiten: "Derzeit darf auch ein alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger, erwachsener Mann regelmäßig nicht nach Afghanistan abgeschoben werden, weil es ihm dort angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der COVID-19-Pandemie voraussichtlich nicht gelingen wird, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen", lautete das Urteil zum Abschiebestopp.

November 2021: Auf Bundesebene wird im Koalitionsvertrag der Ampel unter grüner Beteiligung sogar eine "Rückführungsoffensive" angekündigt, "um Ausreisen konsequenter umzusetzen", denn: "Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben."

Das Fallbeil des Parteiausschlusses

Nicht nur bei der Fluchtpolitik klaffen grünes Ideal und regierende Realität teilweise weit auseinander. Trotz betont feministischem Profil wartet Baden-Württemberg noch immer auf eine Wahlrechtsreform, die mehr Frauen ins Parlament bringt. Bis heute sind weniger als 30 Prozent der Abgeordneten weiblich. Und wo der Einsatz für Bürgerrechte zum Markenkern der Partei gehören soll, ist es ausgerechnet das Bundesland, in dem die Grünen den Ministerpräsidenten stellen, das sich eines der weitreichendsten Polizeigesetze gab – um es nach wenigen Monaten schon wieder zu verschärfen. 

Dafür braucht es eine gewisse Beweglichkeit der Verantwortlichen. Und während es auch im Land talentierte Verrenkungskünstler gibt, hat das geschmeidigste Überbordwerfen zu Ballast gewordener Überzeugungen Robert Habeck gemeistert, der die friktionslose Kehrtwende perfektionieren konnte. Nicht nur, wenn er nach Gesprächen mit Unternehmen eine Standpunktumkehr bei der Patentfreigabe für Corona-Impfstoffe hinlegt und in der Folge längst widerlegte Argumente der Pharmalobby nachplappert. Erst recht, wenn er als Umweltminister von Schleswig-Holstein gegen Fracking kämpft und, nachdem er es im Windschutz der Klimabewegung zum Bundeswirtschaftsminister gebracht hat, eine "Flüssiggas-Offensive" startet – wohlgemerkt schon Ende Januar 2022, bevor Russland die Ukraine angriff.

Nun ist es weder neu noch originell auf die Flexibilität der Grünen hinzuweisen. "Ihre Krankheit  heißt Bigotterie", war schon 1990 in der "Zeit" zu lesen. "'Menschlicher Umgang in der Politik', riefen sie – und schlugen, wie es in Bonn so üblich ist, den eigenen Parteifreunden unter die Gürtellinie. 'Rotation nach zwei Jahren', predigten sie – und planten kühl ihre Kandidatur für die nächste Legislaturperiode. 'Parteistiftungen korrumpieren', erklärten sie treuherzig der Öffentlichkeit – und schrieben die Satzung für eine eigene Stiftung." Und als ein gewisser Winfried Kretschmann sich damals als Landtagsabgeordneter dafür aussprach, Sondermüll verbrennen zu lassen, musste er erfahren, dass "der grüne Parteiapparat unkonventionelle Initiativen unerbittlich abstrafen" wird. In der Folge schwebte über ihm "das Fallbeil des Parteiausschlusses".

Kröten schlucken müssen sie alle

Für grüne Politik "muss man auch bereit sein, Kröten zu schlucken", wusste Rezzo Schlauch bereits in den 1980er-Jahren – und er weiß durchaus, wovon er spricht. Als Politiker gestartet, ist er wie so viele zum Lobbyisten geworden. Unter anderem saß er dabei mit dem langjährigen Vorstandsvorsitzenden von Porsche, Wendelin Wiedeking, im Aufsichtsrat der Agentur WMP EuroCom, die hinter der Aktion "Drachenblut für Wirecard" steht: Der aufgeflogene Hochstaplertrupp und Börsenriese sollte, bevor das Verschwinden von 1,9 Milliarden Euro publik wurde, für ein Basishonorar von 420.000 Euro pro Jahr mit Methoden wie einer schwarzen Liste von Journalisten, vor denen es sich zu hüten gilt, "unverwundbar" gemacht werden.

In einer Laudatio auf Winfried Kretschmann weiß Schlauch 2017 zu notieren, nicht symbolische Aktionen seien das Kerngeschäft der Politik: "Das genuine Instrument der Abgeordneten sei die Rede – am Anfang war das Wort." Seine "unbeugsame Standhaftigkeit", so das Lob, war stets durch eine "Orientierung an der Gegenwart" begründet, "nicht aber die fundamentalistische Reinheit ideologisch einwandfreier Positionen". Eine schöne Umschreibung, wie aus dem Kretschmann-Zitat "Weniger Autos sind besser als mehr" vom Beginn seiner ersten Amtszeit als MP mit etwas mehr Regierungserfahrung der Kampf für eine neue Abwrackprämie auch für Verbrennungsmotoren wurde.

Sachlich gesehen kann es für Positionswechsel sehr gute Gründe geben. Ob diese in der Kommunikation immer nachvollziehbar dargestellt werden, ist eine andere Frage. In der Mediendemokratie, in der die wenigsten Wahlberechtigten ihre Repräsentanten persönlich kennenlernen, spielt die Vermittlung jedoch die entscheidende Rolle. Mitunter setzen sich dabei theatrale Inszenierungsformen durch. Rezzo Schlauch will eine grüne Kommunikationskultur zurück, die "nicht an den Gesetzen der Medien ausgerichtet" war – doch gerade sein Mandant hat diese Gesetze verstanden und weiß, wie sich einer Gehör verschafft. Presse und Palmer sind wie Socken und Sandalen: Sie bringen das Schlechteste ineinander zum Vorschein. Berühmt ist der Tübinger Oberbürgermeister in erster Linie nicht für gelungene Lokalprojekte. Sondern für Kontroversen, die Klickzahlen in die Höhe jagen. Der Fokus auf das Wort statt die Tat hat in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ein absurdes Übergewicht erreicht. Hier lohnt es sich, für eine Neuausrichtung zu streiten.


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10 Kommentare verfügbar

  • Wolfgang Jaworek
    am 05.03.2022
    Antworten
    Ich lernte Boris während des Stuttgarter OB-Wahlkampfs 2004 als blitzgescheiten Kerle kennen, der sich dann aber mit seiner nur schwer verständlichen Unterstützung für CDU-Schuster im zweiten Wahlgang als Ego-Taktiker jenseits aller Parteiloyalität herausstellte. Ich empfand dieses Verhalten und…
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