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Ost-West-Doping

Mit Katrin Krabbe bei James Bond

Ost-West-Doping: Mit Katrin Krabbe bei James Bond
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Gedopt wurde im Leistungssport im Osten wie im Westen. Und geleugnet. Die meisten Lügen hat der vor Kurzem gestorbene Zellbiologe Werner Franke aufgedeckt. Bei seiner Trauerfeier in Heidelberg hat ihn die Ex-Sprinterin Claudia Lepping gewürdigt und erzählt, dass die Sportler:innen alles wussten.

In der Friedhofskapelle von Handschuhsheim, einem Teilort Heidelbergs, erwacht Werner Franke wieder zum Leben. Es ist Freitag, der 16. Dezember 2022. Trauerfeier für Deutschlands bekanntesten Zellbiologen. Seine Kollegen vom Krebsforschungszentrum erzählen von den Papierstapeln um seinen Schreibtisch herum, hinter dem man ihn kaum sieht, von seiner Arbeitswut, und dass er der meist zitierte Wissenschaftler des Hauses war. Unter Europas Krebsforschern ist er ein Star.

Am Schluss geht Claudia Lepping zum Pult. Die frühere Leichtathletin ist mehr als 30 Jahre mit Franke und dessen Frau Brigitte Berendonk in einer gemeinsamen Mission verbunden: dem Kampf gegen ein anderes Geschwür. Das Doping. Die Journalistin, Jahrgang 1968, nennt ihn einen "Berserker der Wahrheitsfindung":

"Wenn ihr dopen wollt, kommt zu mir"

Wie war das damals: Als junge Sprinterin Ende der 1980er-Jahre von einem dopingverseuchten Verein in Westdeutschland eingekauft zu werden? Und die ganze Sache mit Werner Frankes Hilfe auffliegen zu lassen?

"Gedopt wie eine Sau"

Werner Franke, geboren 1940 in Paderborn, ist ein Überzeugungstäter. Er liest, schreibt und redet mit dem gleichen Furor, hat in einem früheren Leben auch Stücke für das Düsseldorfer "Kommödchen" geschrieben. Kristin Otto, die einstige Schwimm-Ikone der DDR und heutige ZDF-Sportmoderatorin, nannte er einmal "gedopt wie eine Sau". Tour-Held Jan Ullrich und sein Team "T-mobile" ("mafiöses System"), unterstützt von der ARD, waren ein anderes Beispiel, die Freiburger Doktoren Klümper und Keul unter der schützenden Hand ("Südwest-Korruption") von CDU-Minister Mayer-Vorfelder ein weiteres, und dann natürlich das alles überragende Staatsdoping in der DDR. Diese "Sauerei", Originalton Franke, enthüllt zu haben, wird sein Hauptverdienst und jenes seiner Frau, der Leichtahtletin Brigitte Berendonk bleiben.

Gemessen an diesen Meriten war das mediale Echo zu seinem Tod am 14. November bescheiden. Meist Agenturmeldungen. Das Thema Doping scheint keine Konjunktur hierzulande zu haben. Der längste Artikel erschien in der "New York Times". Auch deshalb baten wir Claudia Lepping um eine erweiterte Fassung ihrer Trauerrede.  (jof)

Ich war 19. Das Nein zum Doping musste ich nicht lernen. Das gehörte sich einfach so. Aber das Standhaftbleiben gegen den Druck von Trainern, Funktionären und Arbeitgeber: Da war es großartig, Werner Franke und seine Frau Brigitte Berendonk an meiner Seite zu haben.

Wo wäre ich ohne sie geblieben in dem Bemühen, möglichst gute Beweise und Zeugen zu benennen? Denn Werner Franke war angetreten, das erste Urteil gegen einen westdeutschen Dopingtrainer überhaupt zu erstreiten. Meinen Trainer. Mit Erfolg. Dem Erfolg eines der besten deutschen Molekularbiologen und Krebsforschers!

Die Welt will betrogen werden

Mundus vult decipi: "Die Welt will betrogen werden", zitieren Brigitte Berendonk und Werner Franke Papst Paul IV eingangs ihres Buchs "Doping-Dokumente – Von der Forschung zum Betrug". Das Standardwerk entlarvte das systematische Staatsdoping der DDR, und vergaß das weniger geordnete der BRD nicht.

Mundus vult decipi. Ergo decipiatur: Die Welt will betrogen werden, also soll sie betrogen werden. Das machen Menschen möglich, die in Forschung und Medizin tätig sind. Indem sie Dopingmittel liefern, ihr Wissen und ihre Skrupellosigkeit zu Geld machen. Und genau diese Typen aus der eigenen Zunft hatte Werner Franke, dieser Titan der Wissenschaft, auf dem Kieker:

So genannte Ärzte und Mediziner, ich zitiere aus den "Doping-Dokumenten", "die den Athleten immer neue Präparate einraunten, gegen alle ärztliche Ethik schädliche Nebenwirkungen riskierten und ihre Objekte systematisch durch ihr Doping leiteten".

Kurz nachdem mich der westdeutsche Startrainer Heinz-Jochen Spilker angeworben hatte, sah ich, was solche Präparate in den Körpern meiner Vereinskolleginnen anrichteten. Auf dem Weg zur Weltklasse. Die einen früher, die anderen später gezeichnet von chronischer Herzbeutel- und Leberentzündung, von Brustkrebs, Vermännlichung. Maximal betreut, bis zur Einhaltung des Schweigegelübdes.

Werner Franke hat den Elfenbeinturm verlassen

Was tun? Ich suchte Werner Frankes Nummer im Heidelberger Telefonbuch und rief an. Er hörte zu – und forschte, klärte auf und gewann gegen Spilker den ersten Strafprozess "wegen Inverkehrbringens stark vermännlichender Dopingpräparate" in Westdeutschland.

Claudia Lepping, 54, Ex-Leichtathletin und Journalistin, hat sich schon früh gegen Doping eingesetzt. Damit war auch ihre Karriere im Nationalkader bald beendet, wo Bundestrainer Heinz-Jochen Spilker das Sagen hatte. Er hatte sie 1986 zum SC Eintracht Hamm geholt, um ihr zu zeigen, warum die DDR-Sprinterinnen so schnell sind. Von 2002 bis 2013 arbeitete sie unter anderem für die "Stuttgarter Nachrichten", danach als Pressesprecherin für die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Seit Jahresbeginn ist sie im Familienministerium in Berlin tätig. Heinz-Jochen Spilker ist am 18. Dezember 2022 im Alter von 74 Jahren in Erfurt gestorben.  (jof)

Das alles schaffte er nebenher, parallel zu den akribischen, auch konspirativen Recherchen für die "Doping-Dokumente" über den Betrug in der DDR und BRD (Stand 1990). Mit diesem Standardwerk und mit jeder Klage gegen weitere Dopingtäter und Hintermänner brannte sich mir ein Bild ein: Werner Franke hat den akademischen Elfenbeinturm vor allem deshalb so oft verlassen, um Athletinnen wie mir zu helfen. Um kriminelle Strukturen offen zu legen, Täter vor Gericht zu bringen, aufzuklären.

Er hat das für Menschen getan.

Zugleich setzte er klare Grenzen. Als ehemalige DDR-Doper den Versuch nicht unterlassen wollten, sich 30 Jahre später entschädigen zu lassen, obwohl sie nach geltenden wissenschaftlichen Standards darauf keinen Anspruch hatten. Und erst recht nichts zur Aufklärung beitrugen – dafür hatte er kein Verständnis. Er konnte es bis zuletzt nicht ertragen, diesen fortdauernden Betrug, die Feigheit und Geldgier. Erst recht nicht die Verlogenheit in Sport, Politik, und auch in den Medien. Und das sage ich als ehemalige Sprinterin und politische Journalistin. Denn der große Sport ist eben vor allem eins: too big to fail. Zu lukrativ, um zu scheitern.

Sie weinten Krokodilstränen, als Birgit Dressel starb

Vor dieser Kulisse stolperten wir jungen Sprinttalente in den Leichtathletik-Zirkus. Im feinsten Teenager-Trotz, "alles zu geben und nichts zu nehmen", waren wir schnell mit Doping konfrontiert. Selbstverständlich sprachen Athletinnen und Athleten über diese Mittel, sie kannten Namen von Präparaten und die Dauer ihrer Nachweisbarkeit, Namen von Trainern, die die Mittelchen freihändig "nach Stoppuhr" dosieren, und die Namen von Funktionären, die nur die Top-3- der nationalen Bestenliste grüßen.

Aber sie weinten Krokodilstränen, als im April 1987 die Siebenkämpferin Birgit Dressel elend an den Folgen ihres Dopings starb. Alle bedauerten diesen tragischen "Einzelfall", statt das Übel an den Wurzeln zu packen. Too big to fail.

Ich hatte Birgit sieben Monate vor ihrem Tod bei der Europameisterschaft 1986 in Stuttgart kennengelernt. Sie fand mich "Kleine" (18) drollig und ich sie (26) großartig. Am Tag vor Ihrem Siebenkampf, als sie im Neckarstadion Vierte wurde, hat sie mich im 200 m-Halbfinale gegen die Weltrekordlerin Heike Drechsler angefeuert.

Werner Franke sagte später, Birgit hätte das Multiorganversagen überleben können, wenn ihre Ärzte gewusst hätten, dass sie Anabolika genommen hatte. Der Arzt ihres Vertrauens war Armin Klümper, der "Guru" aus der Freiburger Mooswaldklinik, der seinen Patienten zuraunte: "Wenn ihr dopen wollt, dann kommt zu mir. Ich weiß, was ich tue". Wenige Wochen nach Birgits Beisetzung lag ich bäuchlings auf seiner Untersuchungspritsche und fragte ihn, was er ihr gegeben habe, woran sie gestorben sei? Klümper schob sich auf seinem Rollhocker zum Kopfende der Liege, ergriff meine Ohren und sagte mir ins Gesicht: "Wenn Birgit nur das genommen hätte, was ich ihr gegeben habe, würde sie noch leben."

Trost? Hybris? Wahnsinn!

Im Nachhinein erst wurde mir klar, warum ich in Stuttgart täglich (!) zur Dopingkontrolle bestellt worden war. Der Bundestrainer Spilker wusste: Ich nahm nichts, konnte also nicht "erwischt" werden. Damals konnten die nationalen Verbände selbst Athletinnen und Athleten zur Dopingprobe schicken, um ihr Testkontingent zu erfüllen. Eine Farce.

Nur Schwimmerin Kristin Otto weiß nichts

Ebenso erfuhren Vereine vom Deutschen Leichtathletikverband meist schon zwei Wochen vorher, wann ein Kontrolleur kommen würde. Da blieb genug Zeit, die Präparate abzusetzen und letzte Spuren aus dem Körper zu spülen. Und in der DDR gab es "Ausreisekontrollen" vor jedem internationalen Wettkampf, auf dass sie spätestens im Ausland "sauber" waren und schön siegen konnten im Wettstreit der Blöcke.

Werner Franke fügte das alles zum deutsch-deutschen Dopingpuzzle zusammen, mit Zornesröte im Gesicht, aber auch mit lautem Lachen, wenn ihm wieder einmal etwas zu absurd erschien. Eine meiner Geschichten hatte es ihm besonders angetan. Es war 1986 bei der Junioren-WM in Athen. Die Nationalteams der BRD und der DDR logierten im selben Hotel, aber auf unterschiedlichen Etagen. So heimlich wie beherzt verabredeten wir uns nächtens in unserem Zimmer. Um 1. 45 Uhr, als die Stasi-Aufpasser endlich im Bett waren, klopfte die 4x100 Meter-Staffel um Katrin Krabbe leise an unsere Tür. Wir stellten den Fernseher im Zimmer lauter (es lief ein James Bond-Film), damit niemand auf dem Hotelflur zufällig die fremden Stimmen in unserem Zimmer hörte – und plauderten darüber, wie selbstverständlich die beiden Sportnationen dafür sorgten, dass ihre dopenden Sportler möglichst nicht erwischt werden. Ost-Superstar Katrin Krabbe wurde später Doppelweltmeisterin über 100 und 200 Meter, Weltsportlerin des Jahres, und 1992 wegen Anabolikabetrugs gesperrt. Danach erstritt sie sich 1,2 Millionen DM wegen entgangener Sponsorengelder, Start- und Siegprämien.

Andere wiederum, wie die Vielfach-Olympiasiegerin Kristin Otto, wechselten die Bühne und wurden TV-Sportmoderatorin. Die erfolgreichste deutsche Schwimmerin ever behauptet bis heute, vom Doping der DDR nichts gewusst zu haben.

Auch in ihrem Fall hat der Bulldozer der Aufklärung immer dagegen gehalten. Wenn es sein musste, auf der Bundespressekonferenz. Er wollte das große Lügen enttarnen, am liebsten hätte er den ganzen Sumpf trocken gelegt.

Mundus vult decipi. Ich bin froh und stolz, seit mehr als 30 Jahren dem Team Brigitte Berendonk und Werner Franke angehören zu dürfen, das nicht betrogen werden wollte. Dem Glücksfall für den Sport, für die ganze Gesellschaft.

Was für ein Wissenschaftler. Was für ein Mensch.


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