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Collegium Academicum

Öko, demokratisch und unabhängig

Collegium Academicum: Öko, demokratisch und unabhängig
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Auf ein Gelände des einstigen US-Hospitals in Heidelberg ziehen demnächst Studierende, um selbstverwaltet, ökologisch und bezahlbar zu leben. Inspiriert vom Collegium Academicum der Nachkriegszeit, wollen die Macher:innen hier eine lebendige Gemeinschaft entfachen.

In diesen Tagen herrscht geschäftiges Treiben im und um den Neubau des Collegium Academicum. Zur Bauabnahme sind Handwerker:innen der verschiedenen Gewerke im Gebäudekomplex unterwegs, einige haben es sich auf dem Dach des Altbaus für die Mittagspause gemütlich gemacht.

Vier Stockwerke hoch ist das neue Wohnheim, gestemmt von einer Projektgruppe in Eigenregie. Das Wohnheim mit Aula hat Platz für 176 Studierende, Auszubildende und Promovierende, die in den kommenden Wochen und Monaten einziehen werden – für 310 Euro warm, plus Strom und Internet. Nebenan wird das ehemalige Verwaltungsgebäude des Hospitals umgebaut und saniert und soll ab Herbst 2023 unter anderem rund 50 Personen Raum für ein eigens entwickeltes Orientierungsjahr bieten. Und das ehemalige Pförtnerhäuschen wird zum Café umgestaltet. Das beeindruckende Projekt wurde möglich, weil eine kleine Gruppe Engagierter jahrelang hartnäckig ihr Ziel verfolgte: eine demokratisch organisierte Selbstverwaltung in der Tradition des alten Collegium Academicum in der Altstadt, das bis in die 1970er Jahre ein lebendiger Ort studentischer Kultur war.

Franziska Meier sitzt in einem der zukünftigen Wohnheim-Zimmer, das noch als Besprechungsraum dient. Sie engagiert sich von Beginn an in der Projektgruppe des CA. "Wir waren in der glücklichen Situation, Visionen spinnen zu können", sagt sie über die Anfänge vor zehn Jahren und ergänzt: "Das Ideelle stand stets im Vordergrund." Früh entschied sich die Gruppe für das Mietshäuser-Syndikat (das übrigens in diesem Film sehr lebendig vorgestellt wird). Durch die Mitgliedschaft im Projektverbund sind die Häuser nicht dem Markt unterworfen und es ist leichter möglich, die Miete dauerhaft stabil zu halten.

Nicht nur günstig, sondern auch ökologisch sollte der Bau sein. Also entspricht er dem Passivhausstandard KfW 40 plus, dazu kommt eine große Photovoltaikanlage mit Batteriespeicher, die von der Heidelberger Energiegenossenschaft betrieben wird. Die außen liegenden Flure müssen nicht geheizt werden und es gibt gemeinschaftlich genutzte Werkstätten zum Reparieren von Möbeln und Fahrrädern sowie für Instandhaltungsarbeiten.

"Es ist einer der ersten reinen Holzbauten in der Primärkonstruktion in Deutschland", betont Meier. Es gibt keine Zwischendecken aus Stahlbeton und statt Metallschrauben kommen Holzdübel zum Einsatz. Besonders stolz ist Meier auf den geringen Pro-Kopf-Flächenverbrauch von 25 Quadratmetern einschließlich Gemeinschaftsflächen. Der bundesweite Durchschnitt ist fast doppelt so hoch. Durch Schiebewände lassen sich die Zimmer in den Wohngemeinschaften von 14 auf sieben Quadratmeter reduzieren und der Gemeinschaftsraum entsprechend vergrößern. Mit eingerechnet ist die große Aula, in der künftig Versammlungen und Veranstaltungen über die Bühne gehen sollen.

Irgendwann war es zu demokratisch

Noch als Studentin der Neueren und Neuesten Geschichte hatte die heute 33-Jährige die Historie des "alten CA" aufgearbeitet und anlässlich des Jubiläums 2015 eine Ausstellung mit Begleitband konzipiert, in der Zeitzeugen wie Rafik Schami und der langjährige Heidelberger "Kontext"-Autor Mario Damolin zu Wort kommen.

Über die Anfänge sagt die inzwischen promovierte Historikerin: "Mit der Gründung des Collegium Academicum im Oktober 1945 im zuvor als Kaserne genutzten Carolinum in der Altstadt sollte nicht nur dringend benötigter Wohnraum für Studierende geschaffen werden. Nach zwölf Jahren Nazi-Regime stellte sich der Uni auch die Frage: Wie bringen wir der Jugend demokratische Strukturen bei?"

Es gab einen "Konvent", wie die Versammlung der Kollegiaten genannt wurde, und man orientierte sich an der Gewaltenteilung der noch jungen BRD. Mit politischen Debatten und kulturellen Aktivitäten entwickelte das Wohnheim ein Eigenleben, das auch in die Stadtgesellschaft ausstrahlte. Das "Theater im Gewölbe" wurde zu einer der besten deutschen Studentenbühnen.

Lange wurde der Leiter vom Senat der Uni bestellt, mit der 68er-Bewegung änderte sich das. Der Konvent nahm die Hierarchie nicht mehr hin, die Konflikte mit der Uni-Leitung nahmen zu. Der spätere Journalist Mario Damolin war der letzte Leiter, der vom Konvent gewählt wurde – die Uni stimmte seiner Wahl nicht zu. 1975 beschloss der Senat, das CA zu schließen, doch die Studierenden hielten es besetzt. Erst 1978 wurde das Gebäude von einem Polizei-Großaufgebot geräumt und beherbergt seitdem – Ironie der Geschichte – die Universitätsverwaltung.

Was blieb war der Förderverein Collegium Academicum e.V., der bereits 1947 als Ehemaligenverein gegründet worden war. Der mietete 1985 Räume in einem Wohnhaus in der Altstadt (Plöck 93) für WGs an und machte Veranstaltungen zu kritischer Bildung und Wissenschaft. Zeitweise schliefen die Aktivitäten allerdings ein. Das änderte sich ab 2007 mit der Bildungsstreikbewegung. Der Kampf gegen Studiengebühren und Verschulung des Studiums erweckte den Verein zu neuem Leben.

Ein anderes Leben muss möglich sein

Meier erinnert sich noch gut an die Weihnachtsfeier des Fördervereins vor zehn Jahren, als Mario Damolin von seinem Wohnprojekt erzählte. Mit der Communale wollte er ein Mehrgenerationenhaus verwirklichen. Da zündete die Idee: Es sollte ein neues CA geben in Heidelberg. In der Plöck waren die drei Wohngemeinschaften zu einer Hausgemeinschaft zusammengewachsen und aus dieser entwickelte sich die Projektgruppe Collegium Academicum. Geograph Nicolai Ferchl, Physiker Henrik Eckhardt und sie selbst sind bis heute im Projekt aktiv. Getrieben hat alle die Vorstellung von einer anderen Art miteinander zu leben.

"Gemeinschaft lebt von einem Raum, wo sie sich treffen kann", stellt die Historikerin fest. Da auch Raum für größere Veranstaltungen geschaffen werden sollte, war früh klar, dass sie mit elf Personen viel zu wenige waren. "Wir kamen bei unseren Überlegungen auf etwa 200 Personen", so Meier. Das war auch in etwa die Größe des alten CA. Ein Mammutprojekt.

Vertrauen seitens Politik und Stadtverwaltung musste die junge Gruppe erst erwerben. "Wir hatten nichts vorzuweisen: keine Reputation, kein Geld, keine Fachkompetenz." Dazu kam Argwohn aufgrund der Entwicklung des alten CA, das manche etablierte Heidelberger Kreise als Nest von umtriebigen Linken und Spontis in Erinnerung hatten.

"Geholfen hat uns unsere Hartnäckigkeit", sagt Meier. Der Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus Heidelberg 2013 kam den hochfliegenden Plänen entgegen. Die Aktiven tingelten durch den Gemeinderat, besichtigten mit der Stadtverwaltung verschiedene US-Konversionsflächen und beteiligten sich an Bürgerformaten. Eine große Hilfe war auch, dass es das Projekt beim ersten Aufruf in die Internationale Bauausstellung (IBA) Heidelberg schaffte.

Doch wie sollten die Ideen finanziert werden? Das Angebot eines Investors, den Bau zu übernehmen und ihn anschließend zu verpachten, schlug die Projektgruppe aus. Auch aufgrund der Erfahrungen des alten CA. "Der Bau muss uns gehören oder in freier Trägerschaft sein, sonst kann man ihn uns wieder wegnehmen", beschreibt Meier die Haltung der Gruppe.

Mühsam warben die Mitglieder Direktkredite ein, Geldbeträge, die dem Projekt ohne den Umweg über eine Bank geliehen werden – beim Mietshäuser-Sydikat ein wichtiger Baustein der Finanzierung. Doch: Wer gibt die ersten paar tausend Euro? "Wir haben ganz viele Leute angesprochen: Verwandte, Freunde, Bekannte", erzählt Meier. Insgesamt sind 2,8 Millionen Euro an nachrangigen Darlehen und Spenden zusammengekommen. Nochmal so viel steuerten Bund, Land und Stadt aus Fördertöpfen bei. "Ob Politik, Stadtverwaltung oder Direktkreditgebende – es war unglaublich viel Vertrauen da", berichtet sie. Die Leute hätten einfach gesagt: "Macht mal."

Die Gesamtkosten für den Neubau summieren sich auf rund 21 Millionen Euro. Wegen Baukostensteigerungen werden akut noch rund 300.000 Euro Direktkredite für den Neubau gebraucht. Und auch die Sanierung des Altbaus will weiter finanziert werden.

Zu viele Debatten machen auch keinen Spaß

Nebenbei haben die Mitglieder der Projektgruppe eine Art Fortbildung in Projektmanagement Bau durchlaufen und viel fürs Leben gelernt. Zum Beispiel Teamarbeit und Gruppenprozesse aushalten. Sie hätten "unendlich lange über Stromkabel diskutiert", bis sie sich für die teurere halogenfreie Ausführung entschieden, die im Brandfall weniger Schadstoffe freisetzt, erzählt Meier schmunzelnd. Dass die 33-Jährige nicht mit den Studis und Azubis einziehen will, hat auch mit den Mühen der Selbstverwaltung zu tun. "Ich habe manche Dinge genug diskutiert."

Meier, die ehrenamtlich unglaublich viel Zeit und Arbeit in das Projekt investiert hat, ist über eine private Spende befristet beim Förderverein beschäftigt, um das Orientierungsjahr zu planen und zu organisieren. Mit anderen hat sie sich bereits verschiedene Projekte angesehen und ein Konzept entwickelt. Im Herbst 2023 sollen in den sanierten Altbau Jugendliche mit und ohne Schulabschluss einziehen und bei der Selbstfindung begleitet werden. Sie arbeiten an Projekten, setzen sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinander und lernen, ihr Zusammenlernen selbst zu organisieren. Bei Berufsvorträgen geben Personen ihre Einblicke und Erfahrungen weiter.

Wegen Corona, Lieferengpässen und unvorhergesehenen Anforderungen musste der Einzugstermin immer wieder verschoben werden. Auch wenn die Bauabnahme des Neubaus durch das Bauamt noch aussteht: Die künftigen Bewohner:innen haben ihre Mietverträge bereits bekommen. Mit dem Einzug verpflichten sie sich auch dazu, sich in der Selbstverwaltung zu engagieren. Viele sind schon seit Monaten aktiv und voller Enthusiasmus dabei und stehen in den Startlöchern. Klar ist schon jetzt: Das Collegium Academicum lebt.


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1 Kommentar verfügbar

  • gerhard manthey
    am 23.12.2022
    Antworten
    SWSG demokratisch vergesellschaften
    Diese hervorragende Initiative und Arbeit von einer kleinen Gruppe von Menschen für dieses Wohnprojekt beweist anschaulich, wie notwendig es wäre, solche aus der demokratischen Kontrolle geratenen Vermietungsmoloche wie die SWSG ( 19 000 Wohnungen in Stuttgart)…
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