Wie unverschämt.
Ja, deshalb war eines unserer Ziele in diesem Jahr, Information zugänglich zu machen. Ein zweiter Punkt war das Sichtbarmachen der Geschichte. Wir haben in den letzten drei, vier Monaten Workshops zum Thema Leben vor der Kolonialzeit weltweit angeboten. Es gibt viele Diskurse über die schwarze Community und über Afrika allgemein, die beginnen aber meistens erst bei der Begegnung Europa - Afrika.
Das stimmt. Im Geschichtsunterricht in der Schule beginnt die afrikanische Geschichte mit dem Kolonialismus. Wird uns hier vieles falsch gelehrt?
Zweifellos. Falsch und vor allem nicht vollständig. Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie spricht hier von der Single Story: Es wurde nur ein Teil der Geschichte erzählt und dieser Teil ist unvollständig. Was haben wir über Christoph Kolumbus gelernt? Er hätte Amerika entdeckt. Das ist falsch, denn wie könnte er Leute entdecken, die schon da waren? Was wir bis heute nicht gelernt haben: Die Taínos lebten dort, als Kolumbus ankam. Wenn man hier lernt, dass Menschen anderswo historisch vermeintlich keinen Beitrag geleistet und darauf gewartet haben, gerettet zu werden, welche Begegnung erwarten wir uns dann in Austauschprogrammen zwischen Jugendlichen aus Deutschland und Jugendlichen aus Brasilien, Ghana, Benin oder Marokko?
Können Sie ein Beispiel nennen, etwas Historisches, das in Vergessenheit geraten ist?
Ich komme aus Benin, ehemals Dahomey. Bereits vor 400 Jahren haben die Menschen dort Wälder geschützt, Bäume durften nicht einfach so gefällt werden. Mit der Kolonialzeit begann man Bäume zu fällen und Wälder zu zerstören, um Häuser und Straßen zu bauen, weil die Menschen dort angeblich zivilisiert werden mussten. Aber etwa 98 Prozent der Straßen, die in Kolonialzeiten gebaut wurden, führten direkt zum Meer, um Waren nach Europa zu transportieren. Die Zivilisierung war nur eine Rechtfertigung, Länder und die Natur auszubeuten.
Der Naturschutz ist keine europäische Idee?
Viele Konzepte heute kommen angeblich aus Europa, weil die Leute, beispielsweise in Dahomey, vor ein paar hundert Jahren ihre Ideen und Konzepte nicht festgeschrieben und ein Copyright verlangt haben. Genau das wollen wir schwarzen Jugendlichen als Empowerment an die Hand geben. Ihnen zeigen, dass sie nicht aus einer Community kommen, die keinen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit geleistet hat.
Schlimm, wenn einem die eigene Historie abgesprochen wird.
In den Köpfen der Kolonialisten war die Bevölkerung immer nur passiv da. Diese Sichtweise hat sich bis heute nicht viel verändert. Das verschließt die Tür für neue Generationen, Begegnungen auf Augenhöhe zu haben. Wir nehmen ihnen diese Chance weg, indem eine eurozentrische Geschichte konzipiert wird, in der als weiß konstruierte Menschen immer im Vordergrund stehen. Erst wenn diese Internalisierung, also diese Verinnerlichung überwunden wird, wird sichtbar, wie viel man vom Gegenüber lernen kann.
Wie kann diese Überwindung geschehen?
Viele können beispielsweise mit dem Thema Reparationen an Namibia nichts anfangen, schließlich waren sie nicht dabei und sehen es nicht als ihre Verantwortung. Aber dort wurden Menschen umgebracht und Ressourcen ausgebeutet, damit wir hier heute einen hohen Lebensstandard haben. Auch ich. Wir müssen diese Erinnerung neu schaffen. Ohne zu sagen, Weiße waren böse und Schwarze waren gut. Als Schwarze Akademie müssen wir nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in den betroffenen Ländern für das Thema Erinnerungskultur mehr Bewusstsein schaffen.
Es fehlt also nicht nur in Europa an kolonialer Erinnerungskultur?
Ich schäme mich zum Beispiel dafür, wie wir uns in Benin an unsere eigene Geschichte erinnern. Gebäude, in denen Sklavenhandel betrieben wurde, haben keinen Namen und keine Geschichte. Es gibt viele Straßennamen in afrikanischen Ländern, die auf die Kolonialisten zurückgehen. Ich glaube, dass wir als Menschen, die aus den ehemaligen Kolonien stammen und auch in diesen Ländern leben, uns heute nicht genug mit den Auswirkungen der Kolonialisierung beschäftigen. Wir feiern die Unabhängigkeit, ohne die Abhängigkeit zu thematisieren. Die Institutionen sowohl hier in Deutschland als auch anderswo haben die Dekonstruktion der Kolonialisierung noch nicht zu einem wichtigen Prozess gemacht.
Ein solcher Prozess wäre auch ein wichtiger Schritt gegen rassistische Konstrukte. Ist eine Welt ohne Rassismus überhaupt möglich?
Ein junger Geflüchteter hat uns in einem Workshop von einer Schmetterlingsart erzählt, die im Winter Richtung Süden fliegt. Diese Schmetterlinge leben nur maximal sechs Wochen, doch die Reise dauert drei Monate. Unterwegs vermehren sie sich. Keiner dieser Schmetterlinge sieht den Start- und den Zielort. Würden sie jedoch nicht starten und sich unterwegs vermehren, würde die Community nicht überleben. Deshalb: Ja, ich stelle mir eine Welt ohne Rassismus vor, ich werde diese Welt jedoch nie sehen. Trotzdem muss ich meinen Beitrag heute leisten, damit eine der nächsten Generationen in dieser Welt ohne Rassimsus ankommt.
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Manfred Rank
am 27.12.2022