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Vera Sompon

Die Wut in mir

Vera Sompon: Die Wut in mir
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Vera Sompon kommt 2002 nach Deutschland und studiert Sozialpädagogik. Dann gründet sie einen Verein, um MigrantInnen aus Afrika im Alltag zu unterstützen. Ihr Credo: "Werdet selbst aktiv und bringt euch in die Gesellschaft ein." Der Sompon Socialservice e.V. hat heute fast 100 HelferInnen.

Vera Sompon steht schon in der Tür und empfängt uns herzlich, als wir die letzten Stufen der langen Treppe zu ihrem Büro in der Göppinger Innenstadt erklimmen. Im Eingangsbereich hängen gerahmte Fotos von großen Vorbildern. Zur Inspiration, sagt sie. Nelson Mandela mit kämpferisch erhobener Faust. Oder Rosa Parks, die 1955 in den USA wegen ihrer Weigerung, Weißen im Bus ihren Platz zu räumen, verhaftet wurde, was jene Proteste auslöste, die zum Ende der Rassentrennung führten. Vera Sompon ist Gründerin, Beraterin und Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Sompon Socialservice, der sich um MigrantInnen vor allem afrikanischer Herkunft kümmert.

"Wir übernehmen nicht die Arbeit von anderen", sagt sie, "sondern wir unterstützen die vorhandenen Strukturen." Sie und ihr Team – acht festangestellte MitarbeiterInnen und mehr als 80 ehrenamtlich Engagierte – beraten, vermitteln, betreuen, animieren, helfen. Ob es sich dabei um Alltagsprobleme, Aufenthaltsgenehmigungen oder Sprachkurse handelt, um Kita-Plätze, Wohnungs- und Jobsuche oder Freizeit- und Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche. Oder darum, traumatisierende Erlebnisse und rassistische Diskriminierung zu verarbeiten. Der Verein veranstaltet Gesprächsreihen, Fortbildungen und Mentorenprogramme, Afrikawochen und das Esslinger Afro Neckar Festival. Ein großes Netzwerk steht hinter Sompon. Es gibt derzeit zwei Standorte: das Hauptbüro im Schelztorturm in Esslingen und seit vier Jahren die Zweigstelle in Göppingen. Eine weitere Beratungsstelle soll in Bremen entstehen.

Vera Sompon besitzt eine wohlklingende, kräftige Stimme. Man hört ihr gerne zu, und man versteht sofort, was die Menschen meinen, die sie schon mal auf einem Podium erlebt haben und von einer Energie berichten, die einen schier wegfege. Sie bringt sich nicht nur in ihrem Verein ein, sondern zum Beispiel auch im Paritätischen Wohlfahrtsverband, als Sprecherin des Forums der MigrantInnen.

Woher kommt diese Kraft, das große Engagement?

Vor 42 Jahren wurde sie in Bafut-Mambu, Kamerun, als Vera Nkenyi Ayemle geboren und wuchs mit elf Geschwistern in der Hauptstadt Yaoundé auf. Ihr Vater stammt aus dem französischsprachigen Mbouda, ihre Mutter aus dem englischsprachigen Bamenda. Weil Kamerun 285 Landessprachen hat, wachsen die Kinder dort mehrsprachig auf. Sompon ist mit fünf Sprachen groß geworden. Neben den beiden Amtssprachen – Hinterlassenschaften der Kolonialmächte – spricht sie die Regionalsprachen ihrer Eltern, dazu noch Kameruner Pidgin-Englisch, das als Verkehrssprache dient.

Ihre Eltern seien große Vorbilder für sie. Ihr Vater war Kommissar bei der Polizei und habe sich immer gegen die Korruption gestellt. Ihre Mutter sei eine Macherin, die immer als erste die Initiative ergreife, wenn etwas fehle vor Ort – ob es sich dabei um Kleidung, Haarschnitte oder Trinkwasser handele. Die immer versuche, Probleme selbst zu lösen, statt sich zu beschweren. "Diese Einstellung habe ich von ihr wohl geerbt", sagt sie.

Vera Sompon ist eloquent. Man merkt, dass sie viel kommuniziert, dass Reden und Argumentieren ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit sind. Dass auch ihr Verein Sompon heißt, habe nicht unbedingt etwas mit ihrem eigenen Namen zu tun, sondern damit, was er bedeute. In Deutschland lernte sie bald ihren späteren Ehemann Richard Sompon kennen. Auch er stammt aus Kamerun, aus Bangam – dort bedeutet das Wort Sompon so viel wie "etwas Schönes". Sie fand das passend. "Auch damit man immer die Frage stellen muss: 'Was bedeutet das?'", erklärt sie lachend.

Als Vera Sompon 2002 nach Deutschland kam, wollte sie eigentlich gar nicht weg von Kamerun. Sie hatte dort schon ein Jurastudium begonnen. Aber es passierte etwas, das ihr Leben völlig durcheinanderbrachte. "Ich war damals verlobt mit einem Mann, der dann nach Deutschland ging, um zu studieren", erzählt sie, "wir waren sehr verliebt und wollten heiraten. Wir kommunizierten die ganze Zeit über. Aber eines Tages wurde meine Mail von seiner Ehefrau beantwortet. Er hatte mir nichts von seiner neuen Beziehung erzählt." Sie war am Boden zerstört. Die Frage habe sie nicht mehr losgelassen, was Deutschland mit einem Menschen mache, dass er sich so verändert. Sie habe dem Rätsel auf den Grund gehen wollen, schauen, "wie die Leute hier ticken", als sie sich für ein Studium in Deutschland entschied.

Ihre Ankunft in Deutschland: ein Schock

Ihre erste Station war Darmstadt, wo sie erst einmal Deutschkurse besuchte. Schon der erste Tag habe ihr eine "furchtbare Enttäuschung" beschert. Beim Erkunden der Stadt habe sie weiße Menschen gesehen, die auf dem Boden saßen und bettelten. "Das war ein Schock für mich! Dass es in Deutschland Armut gibt und Hilfsbedürftige: Ich konnte es nicht fassen." Übers Fernsehen in Kamerun hatten sich ganz andere Bilder vermittelt: dass hier alle reich seien und sehr gesund. Schließlich reisten die Menschen doch nach Europa, um sich dort von ihren Krankheiten heilen zu lassen, dachte sie. Sompon hatte nicht einmal Menschen mit Brillen erwartet, geschweige denn RollstuhlfahrerInnen.

Ein zweiter Schock folgte ein paar Tage später. "Ich saß im Zug, hinter mir ein kleiner Junge mit seiner Mutter. Das Kind sagte immer wieder: 'Mama, guck mal, die schwarze Frau hat ja einen Kopf.' Der Mutter war das peinlich. Ich drehte mich lächelnd um, weil ich nicht wusste, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Das Kind bekam Angst. 'Mama, du hast doch gesagt, schwarze Menschen haben keinen Kopf.'" Das Kind hatte das sprachliche Bild, das die Mutter offenbar benutzte, noch nicht deuten können.

2005 begann sie ihr Studium an der Hochschule Esslingen: Sozialpädagogik, weil ihr schon von klein auf klar gewesen sei, dass sie mit ihrer Arbeit auf jeden Fall eines wolle: "Menschen helfen." Von 200 Studierenden seien gerade mal 30 aus anderen Ländern gekommen, "sichtbar allerdings nur ich", sagt sie und lacht. Während des Studiums bekam sie auch ihr erstes von zwei Kindern. Von einigen der ProfessorInnen fühlte sie sich vor allem bei der Benotung oft ungerecht behandelt. So habe sie etwa mit einem Kommilitonen zusammen ein Referat gehalten, das im Seminar sehr gut angekommen sei. "Der Kommilitone bekam die volle Punktzahl, ich aber krasse Abzüge. Der Professor meinte: 'Wenn die Studierenden Ihnen Fragen zum Thema gestellt hätten, dann wären Sie nicht in der Lage gewesen, diese zu beantworten.' Ich sagte: 'Aber sie haben keine Fragen gestellt. Sie waren zufrieden und haben geklatscht.' Er: 'Sie können eben nicht so gut Deutsch wie Ihr Kommilitone, da kann ich Ihnen dann auch nicht die volle Punktzahl geben.'" Sie war wütend, aber letztlich resignierte sie. Die Noten spielten irgendwann keine Rolle mehr. Sie wollte einfach nur ihren Abschluss haben. Dass es sich bei solcher Behandlung um Diskriminierung und strukturellen Rassismus handelt, sei ihr erst später klar geworden.

Wut verwandelt sie in positive Energie

Seit 2012 ist Sompon selbst Dozentin an der Esslinger Hochschule. Sie unterrichtet dort "Rassismuskritische Pädagogik". Sie betont, dass sie nicht über Rassismus spreche, um Schuldgefühle zu erzeugen. Man müsse darüber reden ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Scham. Rassismus habe vor allem mit den Machtstrukturen zu tun und der Frage, wer Zugriff auf die Ressourcen habe, wer auf dem Geld sitze und es verwalte.

Nach ihrem Abschluss 2009 arbeitete sie zunächst als Fachpädagogin in einer bilingualen Kita. Aber das reichte ihr nicht. Sie wollte sich stärker in die Gesellschaft einbringen, vor allem: ihren Landsleuten und anderen AfrikanerInnen helfen, sich hier zurechtzufinden, ihr Sprachrohr werden, sich gegen den diskriminierenden Alltagsrassismus engagieren. Immer wieder geschehe es, dass selbst Kinder Opfer von Racial Profiling werden und auf offener Straße polizeilichen Körperkontrollen unterzogen werden, vor allen Leuten. "Wäre ich nicht schon so gefestigt gewesen, als ich nach Deutschland kam, hätte ich mich hier auch ziemlich verloren gefühlt." Und: "Es muss doch bei der Stadt jemanden geben, der die Menschen versteht, weil er ihre Sprache beherrscht."

Sie klopfte bei den entsprechenden Esslinger Behörden an, bot sich als Vermittlerin an. Die Antworten: "Brauchen wir hier nicht." "Wir tun schon genug." "Wir haben keine Kapazitäten." "Schwarze sind nur eine Minderheit." "Aber die Minderheiten", sagte sie, "könnten auch große Probleme verursachen!" "Ja, stimmt", sagte der Mann von der Stadt, "aber wir haben die Ressourcen nicht." "Aber ich mache es doch umsonst, ehrenamtlich. Ich brauche nur die Räumlichkeiten bei Ihnen, als Brücke. Die afrikanischen Menschen scheuen sich, zu euch zu kommen, merkt ihr das nicht?" Aber sie biss auf Granit. "Ich war so wütend!", erinnert sie sich. "Als ich heimging, sagte ich mir: Mensch, Vera, nimm es doch selbst in die Hand."

Sie hat ihre Wut in positive Energie umgewandelt: die Geburtsstunde des Sompon Socialservice. In der ersten Zeit hat Vera Sompon die Menschen bei sich zu Hause beraten. Tagsüber arbeitete sie in der Kita, nachts schrieb sie Anträge. "Zu unserer ersten Veranstaltung, die die Stadt auf uns aufmerksam machen sollte, kamen 200 schwarze Menschen. Ich bin mir sicher, dass die Leute von der Stadt noch nie so viele Schwarze in einem Raum gesehen haben." Zwei Jahre später organisierte der Verein erstmals das Afro Neckar Festival. "Das hat uns gepusht. Plötzlich wollten alle mit uns kooperieren." Und auch, dass sie 2014 für die SPD für den Gemeinderat kandidierte, hat ihr Publicity gebracht und hilft ihr heute, wenn sie mit der Stadtverwaltung kommuniziert. 2015 bekam der Verein im Schelztorturm endlich eigene Räumlichkeiten.

Der Verein: viel Ehrenamt, wenig Geld

Ein großer Teil der Arbeit wird auch heute ehrenamtlich und von Menschen mit internationaler Biografie gemeistert. Lange wurde vieles über Projektgelder finanziert. Erst seit drei Jahren erhält der Verein und seine Migrationsberatungsstelle regelmäßig Geld, etwa vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Und erst seitdem wird auch Vera Sompon für ihre Arbeit bezahlt.

Viele derer, die vom Sompon Socialservice unterstützt wurden, arbeiten heute selbst ehrenamtlich für den Verein. Der junge Mann zum Beispiel, der gerade das Göppinger Büro betritt: Mesmin Mouafo kam 2016 nach Deutschland, weil er in Kamerun für sich keine Zukunft mehr sah. Er lernte Sompon bei einem Projekt für junge Geflüchtete kennen und kam dann regelmäßig in den Schelztorturm. Vera Sompons Credo hat er schnell verinnerlicht: "Wartet nicht auf irgendwelche Papiere und Geld", habe sie gesagt, "das kann dauern, ihr verliert verdammt viel Zeit. Werdet selbst aktiv, übernehmt Verantwortung für euer Leben. Wenn du in einem Land ankommen willst, musst du dich engagieren, in die Gesellschaft einbringen, dich integrieren. Und wenn es bedeutet, dass ihr euren Sprachkurs selbst bezahlen müsst, dann tut das."

Das hat sich Mesmin Mouafo zu Herzen genommen, seinen Unterhalt in das B1-Zertifikat und seinen Führerschein investiert. Er hat bei Sompon seinen Bundesfreiwilligendienst für Geflüchtete gemacht, sich als Jugendleiter schulen lassen und über das Vereinsnetzwerk einen Ausbildungsplatz als Automechaniker gefunden – in einem Betrieb, der ihn im Anschluss übernommen hat. Sein Asylantrag wurde vor Kurzem abgelehnt. Noch ist er geduldet. "Aber selbst, wenn ich Deutschland verlassen muss", sagt der 29-Jährige, "haben mir die Jahre hier sehr viel gebracht." Er nehme viel Know-how mit, könne in Kamerun eine eigene Autowerkstatt aufbauen, anderen jungen Leuten helfen, Ausbildungsstellen und Jobs schaffen. "Und", sagt Vera Sompon, "er hat jetzt auch ein Netzwerk. Wir können ihn von hier aus auch in Kamerun unterstützen."


Der Sompon Socialservice im Netz.


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