KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Polizei Baden-Württemberg

Der leidige Korpsgeist

Polizei Baden-Württemberg: Der leidige Korpsgeist
|

Datum:

Vor knapp zwei Jahren startete die Polizei in Baden-Württemberg eine Kampagne gegen Diskriminierung und Extremismus. Gerade läuft die Aufklärung eines neuen Chatskandals. Wieder kam nur durch Zufall ans Licht, dass Hitlerbilder und Hakenkreuze geteilt wurden.

Die Filmszene soll entlarven: Ein junger Polizist, der für den Generationswechsel steht und für die rund 10.000 Neueinstellungen seit 2016, macht sich fertig für den Dienst, als mehrere Nachrichten auf seinem Handy landen, darunter – verschwommen, aber sofort erkennbar - ein Bild von Adolf Hitler. Er wirft das Gerät zurück auf die Hutablage, dann umschwirren ihn Schlüsselwörter wie "Negertiv" (sic), "Natürlich Deutsch", "Schwarzer Peter", "Flüchtlinge" oder "Pack". Er schließt sie in seinem Spind ein und schweigt, als ein Kollege mit der Frage "Bist du so weit?" den Umkleideraum betritt. Der kurze Clip, hochgeladen auf dem YouTube-Kanal der Polizei Baden-Württemberg, trägt den Titel "Wegschauen? NICHT BEI UNS!"

Vier Jahre lang haben immerhin 70 Polizist:innen in zehn der 15 Polizeipräsidien des Landes geschwiegen. Niemand wollte sich Vorgesetzten anvertrauen oder dem Anonymen Hinweisgebersystem. Jetzt analysieren seit Anfang November 22 Ermittler:innen des Landeskriminalamts (LKA) 6.000 Chatgruppen in der Polizei, eine stattliche Datenmenge von 600 Gigabyte. LKA-Präsident Andreas Stenger bewertet die Lage mit gemischten Gefühlen. "Es tut sich wirklich sehr viel", beteuert der frühere Mannheimer Polizeipräsident, "seit der Werte- und der Kulturwandel Priorität hat." Damit einher könne und solle sogar gehen, dass noch weitere Fälle bekannt werden, "weil gewollt ist, dass sich die Leute melden".

Der frühere Bundesgrenzschützer hat schon in der Quadratestadt viel versucht, um einen neuen Umgang mit dem heiklen Thema zu etablieren. "Eigentlich würde es mir wehtun", sagt Stenger einmal in einem Interview, "wenn die Leute mit einem inneren Druck nicht zu mir kommen." 34 Jahre bei der Polizei, dazwischen im Innenministerium und schon einmal im LKA als Leiter des Kriminaltechnischen Instituts hat er auf dem Buckel. Und eine Erklärung dafür, warum sich so viele Beamt:innen so schwer tun, einschlägige Vorfälle, rechtsradikale Chats, sexistische Anmache oder ausländerfeindliche Sprüche zu melden: Man sei eben tagtäglich in einer "Gefahrengemeinschaft", und es gehöre Mut und Zivilcourage dazu, sich gegen Kolleg:innen zu stellen.

Die Aufarbeitung läuft oft mangelhaft

Von den rund 70 Polizeibediensteten, die bisher als Teilnehmende in einschlägigen Chatgruppen identifiziert sind, hat sich niemand melden wollen. Ermittler:innen stolperten über die Hitlerbilder und die Hakenkreuze, die da immer wieder getauscht wurden. Ein Beamter ist inzwischen vom Dienst suspendiert, seit Oktober wurde gegen einen 28-jährigen Polizisten unter anderem wegen des Verdachts der Volksverhetzung Anklage erhoben. Das LKA hat die Ermittlungen Anfang Oktober übernommen, ein Ausdruck der neuen Herangehensweise. Als vor mehr als fünfzehn Jahren ein Staatsdiener in Uniform disziplinarrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden sollte, weil er sich dem Ku-Klux-Klan (KKK) angeschlossen hatte, gelang es dem Stuttgarter Polizeipräsident Martin Schairer ("Das war ein skurriler Fall"), den Vorgang so lange nicht zu behandeln, bis alle Fristen verstrichen waren. Trotzdem konnte der CDU-Jurist Bürgermeister für Recht, Sicherheit und Ordnung in der Landeshauptstadt werden und lange bleiben.

Der KKK-Anhänger Timo H., später verbeamtet, war ein vergleichsweise durchgeknallter Einzelfall, der in der Folge bei seinen Vorgesetzten offenbar ernsthafte Reue glaubhaft machen konnte. Eine seiner Kolleginnen, die sich beschwert hatte, dagegen ließ sich vorsichtshalber versetzen. Und jene Beamtin, die sich gegen Andreas Renner gewehrt hatte – inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart den Inspekteur der Polizei wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung angeklagt –, kann nach Ansicht von Insidern alle Karriereerwartungen begraben oder zumindest deutlich zurückstellen. Immerhin sind die Ermittlungen gegen sie eingestellt.

Der KKK oder auch jene 70 Mitglieder der im LKA durchleuchteten Chatgruppen stehen im Verhältnis zu den 35.000 Beschäftigen bei der baden-württembergischen Polizei natürlich nicht für ein Massenphänomen. Dennoch wird den Verantwortlichen, allen voran Innenminister Thomas Strobl (CDU) und seiner Landespolizeipräsidentin Stephanie Hinz, nichts anderes übrig bleiben als sich irgendwann von der bequemen Einzelfall-Theorie zu verabschieden. Auch weil insbesondere Hinz erreichen will, dass sich Beteiligte wie Betroffene melden. Wenn der Werte- und Kulturwandel wirklich greift, wird die Zahl der publik werdenden Fälle nach oben gehen. "Wir haben kein strukturelles Rassismus- oder Sexismusproblem", sagt LKA-Chef Stenger, erhofft aber zugleich "beherzte Entschlossenheit" und ruft dazu auf, Führungsverantwortung wahrzunehmen.

Innenminister im Dilemma

Letzteres führt viele Innenminister in ein Dilemma. Einerseits wollen sie als für die Truppe engagiert gelten, wenn es um Stellen oder um Ausrüstung geht oder darum, die Polizei gegen Kritik zu verteidigen. Strobls sozialdemokratischer Vorgänger Reinhold Gall (SPD) beispielsweise hatte sich nicht damit abfinden wollen, dass die Verbindungen des NSU nach Baden-Württemberg und damit zugleich Polizei, Staats- und Verfassungsschutz in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss unter die Lupe genommen werden. In den damaligen Regierungsfraktionen von Grünen und SPD setzte er durch, dass der Landtag sich zunächst mit einer Enquete-Kommission begnügte. Erst als die scheiterte, kam es zu einem und in der Folge sogar zu einem zweiten Untersuchungsausschuss.

Einen traurigen Spitzenplatz in der Liste einschlägiger Verfehlungen nimmt Hessens früherer Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) ein. Er konnte zu einem geachteten Parteigranden aufsteigen, obwohl er als Innenminister die polizeiliche Vernehmung von Andreas Temme verhinderte: jenes Mitarbeiters des Verfassungsschutzes, der im April 2006 zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat durch den NSU in dessen Internetcafé am Tatort war. Und der das hinter der Theke verblutete Opfer selbst beim Zahlen nicht gesehen haben will. "Er war sowohl Sportschütze als privat im Besitz von NS-Propagandamaterial", schreibt Claudia Wangerin in der Tageszeitung "Die junge Welt". Ein abgehörtes Telefonat von Temmes Ehefrau mit einer anderen Person habe zudem ergeben, dass rassistische Formulierungen wie "Dreckstürken" durchaus üblich gewesen seien. Die ursprünglich für 120 Jahre als geheim eingestuften Akten bleiben nun für 30 Jahre unter Verschluss. Ein Kultur- und Wertewandel, angetrieben und unterstützt durch die Politik, sieht anders aus.

Auch Baden-Württembergs Innenminister Strobl inszeniert sich gern als Schutzpatron der 35.000 Beschäftigen, 29.000 davon sind Polizeibeamt:innen. Er rühmt sich regelmäßig für die tatsächlich größte Einstellungsoffensive in der Geschichte des Landes und lobt "die professionelle Ausbildung auf höchstem Niveau". Mit klaren Auskünften dazu, wie viel Demokratiebildung darin steckt, tut sich sein Haus allerdings schwer. "Die Themenfelder Politische Bildung, Wertekultur, demokratische Resilienz, Polizeigeschichte, interkulturelle Kompetenz und Diversität werden künftig verstärkt in den Unterricht an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg implementiert", schreibt Staatssekretär Wilfried Klenk (CDU) im Frühjahr auf eine Anfrage der FDP-Landtagsfraktion reichlich nichtssagend – und zugleich doch entlarvend. Denn knapp elf Jahre nach dem Auffliegen des NSU, nach der langen Latte von Ermittlungsfehlern und den vielen Fällen von politischer Ahnungslosig- und Anfälligkeit für verqueres Denken ausgerechnet bei Nazisymbolen nicht genau hinzuschauen, zeigt das Futur I in Klenks Antwort den Nachholbedarf.

Demokratiebildung? Fehlanzeige

Eine Rückfrage im Innenministerium führt ebenfalls nicht viel weiter. "In der Ausbildung werden unter anderem Themenfelder wie das politische System, die Polizeigeschichte, die Geschichte des Nationalsozialismus und die Gefahren des Antisemitismus unterrichtet, daneben sind aber auch aktuelle Bedrohungen für die Demokratie, zum Beispiel Erscheinungsformen von Extremismus, das Reichsbürgertum und Verschwörungstheorien Bestandteil des Unterrichts", sagt ein Sprecher. Aufgrund der "hohen Relevanz" seien diese Themen prüfungsrelevant.

Hingegen ist der Internetauftritt der zuständigen Hochschule für Polizei Baden-Württemberg – leider – aufschlussreich. Dort gibt es zusätzliche Info-Angebote und Leitfäden zur "strukturierten Anhörung von Kindern im forensischen Kontext", zur "Vernehmung von erwachsenen Zeugen und Beschuldigten", zum Waffenrecht oder zur Body-Cam. Demokratiebildung? Fehlanzeige.

Oliver Hildenbrand, grüner Fraktionsvize im baden-württembergischen Landtag, kann sich vorstellen, statt allein auf Lernen, Lehren und Prüfen des staatskundlichen Wissens in der Ausbildung zu setzen, an einer ganz anderen Stellschraube zu drehen: Der Amtseid könnte um "eine klare Abgrenzung" zum Nationalsozialismus erweitert werden. Das sei mehr als ein Symbol, gerade weil nachdenklich stimmen müsse, dass Beamt:innen einschlägige Vorfälle nicht von sich aus bekannt machen. Und das Landesdisziplinarrecht könnte um eine Passage zur tätigen Reue erweitert werden: Wer Meldung mache, zum Beispiel über solche menschenverachtende Chat-Inhalte, könnte dann Milde erwarten. "Das würde", hofft der Grüne, "die Fehlerkultur stärken."


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!