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Bauen und Nachhaltigkeit

Klima und Baukultur in Gefahr

Bauen und Nachhaltigkeit: Klima und Baukultur in Gefahr
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Unter dem Titel "Stuttgart reißt sich ab" wollte die linke Fraktionsgemeinschaft im Stuttgarter Rathaus über ein Abriss-Stopp diskutieren. Gründe dafür gäbe es mehr als genug, machten ein Architekt, eine Stadtplanerin und der Stadtklimatologe deutlich.

Sind Architekt:innen links? Ganz allgemein sicher nicht, und erst recht nicht ihre großen Verbände, die parteipolitisch zweifellos auf Neutralität achten. Aber es fällt schon auf, dass sich nur die linke Fraktionsgemeinschaft "Die FrAktion" im Stuttgarter Gemeinderat für ein Thema zu interessieren scheint, das sich der Bund deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) seit vier Jahren auf die Fahnen geschrieben hat und das auch die Architektenkammer beschäftigt: die Abrisspolitik, vielen Bürgern schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge.

"Stuttgart reißt sich ab" – so lautete der Titel einer Veranstaltung am Montag im Rathaus, eben auf Einladung der FrAktion, in Anlehnung an eine Ausstellung der Architekturgalerie am Weißenhof vor einigen Jahren (Kontext berichtete), die auf überwältigende Resonanz gestoßen war. Wer freilich bei dem Thema nur an Baudenkmale denkt, liegt zwar nicht völlig falsch, hat aber die Problematik noch nicht ganz erfasst. Es geht heute um viel mehr: Die große Masse des Gebauten steht nicht unter Denkmalschutz. Dennoch seien Erhalt und Weiterbau gegenüber Abriss und Neubau vorzuziehen, aus Klimaschutzgründen, so der BDA in seinem bereits 2019 veröffentlichten Positionspapier "Das Haus der Erde". Der Verband gehörte auch zu den Initiator:innen des im vergangenen September veröffentlichten "Abrissmoratoriums".

Im Wechselraum, dem Stuttgarter Ausstellungs- und Veranstaltungsraum des BDA, ist soeben die Ausstellung "Gefährdete Arten" zu Ende gegangen, die acht abrissbedrohte Gebäude im Land vorgestellt hat, allesamt aus der Nachkriegszeit und zumeist aus Beton. Über Schönheit kann man streiten, fest steht: Für Betonherstellung und Bau wurde viel Energie aufgewendet, die bei Abriss und Neubau noch ein weiteres Mal anfällt. In Zeiten des Klimawandels eigentlich ein No-Go.

In Lörrach wird langsam umgedacht, in Stuttgart nicht

Das Rathaus Lörrach etwa, ein 17-geschossiger Hochhausturm, seit 1968 geplant und 1976 fertiggestellt, steht derzeit vor der Gretchenfrage: Sanierung oder Abriss und Neubau? Die Stadt hat das Beratungsbüro Drees & Sommer eingeschaltet, das berechnet hat, Abriss und Neubau würden 1.950 Tonnen CO2-Äquivalente freisetzen, eine Grundsanierung dagegen nur 170 Tonnen: ein Elftel. Dies hat auch die Abrissbefürworter:innen nachdenklich gemacht. Und damit sich die Bürger:innen informieren können, wandert die BDA-Ausstellung nun vom 11. bis 26. Mai nach Lörrach, bevor sie an die anderen Orte, aus denen bedrohte Gebäude vorgestellt werden – Freiburg, Mannheim, Reutlingen, Karlsruhe und Pforzheim – weiterzieht.

Während in Lörrach also ein Umdenken einzusetzen scheint, hat Stuttgart "die Brisanz des Themas offenbar noch nicht erkannt", so Thomas Hermann, der Sprecher der fünf Stuttgarter Kammergruppen der Architektenkammer Baden-Württemberg. Dabei böte schon ein Blick aus dem Fenster des Großen Sitzungssaals des Rathauses, in dem die Veranstaltung stattfindet, genügend Anschauungsmaterial.

Das Problem in der Nussschale: An der Stelle der Galeria Kaufhof in der Eberhardstraße, vom Rathaus in Sichtweite, befand sich früher das Kaufhaus Schocken von Erich Mendelsohn. Trotz breiter, internationaler Proteste wurde es 1960 abgerissen. Während es damals um eine Ikone der modernen Baukunst ging, die einer Straßenverbreiterung zum Opfer fiel, spielen heute andere Faktoren eine Rolle. Der Kaufhauskonzern gehört dem Immobilienhai René Benko und seiner Signa Holding. Benko wollte eigentlich das Gebäude abreißen, um einen Neubau für die Bundesbank zu errichten. Die ist jetzt jedoch abgesprungen. Nun ist die Stadt gefragt: Wird sie ihr Vorkaufsrecht nutzen und sich für einen Umbau im Bestand entscheiden, für ein Haus der Kulturen womöglich, wie dies SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch vorschwebt? Oder werden wieder einmal private Investoren den Vortritt erhalten?

Der Bausektor hat die Klimaziele bereits verfehlt

Rockenbauch moderierte die Diskussion, in die Stadträtin Johanna Tiarks von den Linken einführte. Sie legte den Akzent auf die steigenden Preise für Wohnraum, ließ aber auch Kaufhof und Schleyerhalle nicht unerwähnt. Die FrAktion hat beantragt, das 2022 initiierte Abrissmoratorium umzusetzen, berichtete sie. Die Antwort der Stadt: Die grundlegenden Bürger- und Freiheitsrechte der Haus- und Grundbesitzer dürften nicht eingeschränkt werden.

Martina Baum, Direktorin des Städtebau-Instituts der Universität Stuttgart, hielt es für angebracht, zunächst einmal zu erklären, was mit dem Abrissmoratorium gemeint ist, zu dessen Erstunterzeichnerinnen sie gehört: Es handelt sich um einen Appell an Bundesbauministerin Klara Geywitz, Abrisse genehmigungspflichtig zu machen.

"Tabula rasa", so Baum, "ist heute die gängige Praxis." Also Abriss. Dem stünden nicht nur der Klimawandel, sondern auch kulturelle Werte entgegen. Baum legte den Finger in die Wunde: Häufig gehe es um "rein monetäre Gründe", hielt sie fest, und: "Die Bauwirtschaft ist ein sehr starker Lobbyist." Was das Klima angehe, so Baum weiter, hätte der Bausektor wie der Verkehr die Ziele bereits verfehlt. Statt vehement gegenzusteuern, hat die Ampelkoalition in ihren jüngsten Beschlüssen eine andere Schlussfolgerung gezogen: "Die Bundesregierung hat die Sektorenziele einfach eingestampft", kritisiert Baum.

"Bauen im Bestand bietet auch eine Chance"

40 Prozent der CO2-Emissionen stammen aus dem Bausektor, sekundierte Ingo Haller von der Initiative Architects for Future. In seiner Masterarbeit hat sich der Architekt mit dem 1,5-Grad-Ziel beschäftigt. Mit dem Ergebnis, es sei eine "Mammutaufgabe", dieses noch zu erreichen. Haller bezweifelt nicht, dass Wohnraum gebraucht wird. Während viel gebaut werde, werde zur selben Zeit aber ebenso viel abgerissen. "In Stuttgart ist die Liste ewig lang", fasste der junge Architekt zusammen, der aber nicht nur nörgeln wollte: "Bauen im Bestand bietet auch eine Chance, kreativ zu werden", meinte er.

Rainer Kapp, seit fünf Jahren Leiter der Abteilung Stadtklimatologie im Stuttgarter Rathaus, versteht sich als Anwalt für die Gesundheit der Bürger. Er sieht zwei große Herausforderungen: Zum einen würden wir, wenn wir nicht sehr radikal handeln, eher bei drei als bei 1,5 Grad Temperaturanstieg landen und damit bei Konsequenzen, "die wir nicht mehr ganz leicht einfangen können".

Zum anderen ist sein Gebiet aber das Stadtklima: ein ganz eigener Bereich mit besonderen Erscheinungen wie dem Wärmeinseleffekt. Will sagen: In der Innenstadt heizt sich die Luft im Sommer extrem auf. Die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, sei mehr Grün und Entsiegelung. Die Losung der Grünen, Innenentwicklung statt Außenentwicklung, beurteilt er deshalb kritisch: Wenn dies bedeute, dass auch noch die letzten Freiflächen in der Stadt bebaut werden, verschärfe dies nur das Problem.

Ganz im Gegenteil wären Entsiegelungen nötig, findet der Stadtklimatologe, etwa von Verkehrsflächen und Parkplätzen. Allerdings könnten auch neu gepflanzte Bäume erst in 30 bis 40 Jahren ihre volle Wirkung entfalten. "Es ist eine ständige Gratwanderung", bekannte er. Rockenbauch stellte die provokante Frage: "Muss vielleicht fürs Stadtklima auch abgerissen werden?" Nicht unbedingt, wendet Kapp ein: Wenn zum Beispiel bestehende Gebäude in Holzbauweise aufgestockt werden, stellt dies kein Problem dar.

"Es gibt keine einfache Lösung"

Wer nun, wie vermutlich die FrAktion als Veranstalter, erhofft hatte, auf die vielen Aspekte der fachkundigen Beiträge interessierte Fragen, Einwände oder wertvolle Ergänzungen zu erhalten, wurde von den Wortmeldungen aus dem Saal wieder auf den Boden zurückgeholt. Die Besucher:innen nutzten die Gelegenheit, ihrem lang angestauten Ärger Luft zu machen. Auch zu Themen, die mit Abriss nur am Rande zu tun haben.

Die Opernsanierung brachte einer zur Sprache. Der nächste wollte wissen, wie angesichts der Inflation alles zu finanzieren sei. Engagiert mischte sich Martina Baum ein. "Es gibt keine einfache Lösung", betonte sie. Falsch sei es insbesondere, bei energetischen Sanierungen immer vom Einzelgebäude auszugehen, und am Ende verursache die Wärmeisolierung tonnenweise Sondermüll. Vielmehr müsse in größeren Zusammenhängen gedacht werden: ob sich etwa Abwärme aus der Industrie zur Beheizung von Wohnungen nutzen ließe.

"Wie kann eine Stadt solche Einweg-Architektur verhindern?", wollte ein Teilnehmer, mit Blick auf einen Neubau direkt neben dem Rathaus, wissen. Roland Ostertag habe schon vor Jahren den Abriss-Furor gegeißelt, gab eine Frau zu bedenken. Verzweiflung könne einen überkommen, wenn man immer wieder von vorn anfangen müsse und sich doch wenig ändere.

Zwischen reichlich Frust gab es allerdings auch interessantere Wortmeldungen: Gerhard Pfeifer vom Naturschutzverband BUND etwa monierte, in Ditzingen würden 57 Hektar Land dem Muschelkalkabbau geopfert: ein enormer Flächenverbrauch. "Das hat auch damit zu tun", so Pfeifer, "dass in Stuttgart gebaut wird." Denn Muschelkalk ist auch als Baustoff gefragt, unter anderem zur Herstellung von Zement. Pfeifer empfahl daher, auch mal über den Tellerrand der Stadt zu blicken.

Frank Schweizer wiederum, dessen Verein zur Förderung und Erhaltung historischer Bauten bereits manches Gebäude, vom Metropolkino bis zum Marmorsaal im Weißenburgpark, vor dem Abriss gerettet hat, wandte sich an die jüngere Generation: ob sie nicht mal ein, zwei Stunden pro Woche Zeit hätten, die Arbeit der inzwischen über Achtzigjährigen fortzuführen.

Welches Fazit zogen die Diskutant:innen aus der Veranstaltung? Stadtklimatologe Rainer Kapp gelangte zu der Erkenntnis, dass Verkehrswende und Bauwende zusammen gedacht werden müssten: die beiden Gebiete, die ihre Sektorenziele bisher am weitesten verfehlt haben. Der Architekt Ingo Haller findet, man müsse über eine Postwachstumsgesellschaft nachdenken. Und Stadtplanerin Martina Baum hält ein Umdenken für nötig: weg vom passiven Konsumieren, hin zum aktiven Gestalten.


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2 Kommentare verfügbar

  • Peter Mielert
    am 06.04.2023
    Antworten
    Schade nur, dass nicht konkrete Beispiele für Abrisse und Umnutzungen gezeigt wurden; z.B. die Abrisse aus jüngster Zeit in Stuttgart: Wohnhäuser Pragstrasse, Güterabfertigungsgebäude im Neckarpark, Kaufhofgebäude - alle in Bad Cannstatt; Umnutzungen von Kaufhöusern, z.B. In Kassel...
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