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Rojava, Westkurdistan

Türkei nimmt Bevölkerung ins Visier

Rojava, Westkurdistan: Türkei nimmt Bevölkerung ins Visier
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Während die internationale Gemeinschaft schweigt, startet die Türkei neue Angriffe auf die mehrheitlich kurdisch bewohnte Autonomieregion Rojava in Nordostsyrien. Ihr Ziel: die Versorgung der Bevölkerung lahmzulegen. In Rojava versucht sich seit mehr als zehn Jahren eine Selbstverwaltung zu etablieren.

Im Windschatten des russischen Krieges gegen die Ukraine versuchen Autokraten weltweit, mit militärischen Mitteln ihren Einfluss auszubauen. Das Erdoğan-Regime in der Türkei begünstigte und unterstützte nicht nur den Krieg und die Vertreibung der armenischen Bevölkerung durch Aserbaidschan östlich der Türkei. Seit Anfang Oktober nimmt das türkische Militär bei seinen Angriffen auf die mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten Gebiete in Nordostsyrien, südöstlich der eigenen Landesgrenze, auch die zivile Infrastruktur ins Visier. Allein in den ersten fünf Tagen griffen Drohnen und Bomben aus Flugzeugen nach Angaben des türkischen Machthabers Recep Tayyip Erdoğan mehr als 194 Ziele in dem auch als Rojava bekannten Gebiet an. Wo Rojava liegt und wo die türkisch besetzten Gebiete, zeigen diese Karten des Rojava Information Center.

Medico International sieht die türkischen Angriffe auf Rojava als "Krieg ohne Aufmerksamkeit". Anita Starosta betreut für die Hilfsorganisation zahlreiche Projekte in Nordostsyrien und beobachtet die Lage aufmerksam: "Seit Tagen zerstört die Türkei die zivile Infrastruktur in Nordsyrien. Die Lebensgrundlagen der Bevölkerung in der Region werden gezielt zerstört." Wasser- und Energieversorgung, Krankenhäuser und Schulen seien ebenso von den Angriffen betroffen wie Ölfelder, Fabriken und Warenlager. Unter anderem wurde das Corona-Krankenhaus im nordsyrischen Dêrik komplett zerstört. Luftangriffe trafen auch wiederholt das Elektrizitätswerk Suwediya und andere Verteilstationen. Strom ist in Rojava auch die Grundlage der Wasserversorgung, die zusätzlich durch die Zerstörung von Staudämmen getroffen ist. "Der Region droht ein Exodus", sagt Starosta.

Türkei rechtfertigt Angriffe

Die Angriffe auf die Infrastruktur sind kein Zufall oder Unfälle. Auf einer Pressekonferenz sagte der türkische Außenminister Hakan Fidan am 3. Oktober, dass zivile Ziele in Nordostsyrien und dem benachbarten, ebenfalls von Kurd:innen dominierten Nordirak zum Abschuss freigegeben seien. Die Rechtfertigung dafür war ein Anschlag auf das türkische Innenministerium am Tag zuvor, zu dem sich die kurdische Arbeiterpartei (PKK) bekannte. Die türkische Regierung reklamierte Spuren, die nach Syrien führen würden. Belege dafür präsentierte sie nicht. Eine solche Begründung nutzt die türkische Regierung nicht zum ersten Mal für ihre Angriffe auf Rojava. Schon im vergangenen Jahr diente ihr der Terroranschlag auf der Istiklal-Straße in Istanbul als Rechtfertigung für eine zweiwöchige Intensivierung ihrer Luftangriffe auf Nordostsyrien.

Raman Bilal ist Mitglied der internationalistischen Kommune in Rojava und befindet sich aktuell in Dêrik. Der 34-Jährige erlebte auch schon die Angriffe im vergangenen November mit. "Das Ziel ist die zivile Infrastruktur. Was letztes Jahr beschädigt wurde, wird dieses Jahr zerstört." Nicht im Fokus der türkischen Luftangriffe seien hingegen militärische Ziele. Stattdessen seien in der Umgebung unter anderem ein Wasserdepot und eine Gasverteil-Station angegriffen worden, so dass den Menschen das Gas zum Kochen fehle. Bilal hat eine ganz andere Erklärung für den Zeitpunkt der türkischen Angriffe. Vor 25 Jahren, am 9. Oktober 1998, wurde der PKK-Gründer Abdullah Öcalan auf türkischen Druck hin aus Syrien ausgewiesen und wenig später vom türkischen Geheimdienst verhaftet. "Die Türkei liebt für ihre Angriffe symbolische Daten. Mit der Offensive soll der kurdischen Gesellschaft ein Schlag versetzt werden", sagt Bilal.

Kurdische Autonomie nicht anerkannt

Die Autonomieregion im Nordosten Syriens ist ein noch relativ junges Verwaltungsgebilde. Im Verlauf des seit 2011 dauernden Bürgerkriegs gab das Assad-Regime in Damaskus die Kontrolle über den Norden zunehmend auf. In die Lücke stießen kurdische Kräfte, um mit christlichen, assyrisch-aramäischen und anderen Parteien eine Übergangsverwaltung aufzustellen, die seit 2016 unter dem Namen autonome Föderation Nordsyrien – Rojava besteht. Dominante Kraft ist dabei die Partei der Demokratischen Union (PYD), die 2003 auf Beschluss der PKK gegründet wurde und die im Sinne der Ideen von Abdullah Öcalan vom demokratischen Konföderalismus eine Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete in Syrien anstrebt.

International ist die Autonomieregion Rojava mit fünf Millionen Einwohner:innen nicht anerkannt, ihr Militärbündnis Demokratische Kräfte Syriens (SDF) arbeitet im Kampf gegen den IS aber eng mit den USA zusammen. Währenddessen attackiert die Türkei seit Jahren die Autonomiebestrebungen in Nordsyrien, durch die sie eine Sogwirkung auf die eigene kurdische Bevölkerung im Land befürchtet. Seit 2018 hält sie die westlichste der drei Regionen von Rojava besetzt und brachte vor zwei Jahren mit der stillen Unterstützung Russlands weitere Territorien im Norden von Rojava unter ihre Kontrolle. Die eroberten Gebiete will Erdoğan erklärtermaßen gleich doppelt nutzen. Mit der Ansiedlung von in der Türkei lebenden Syrer:innen will er die Zahl der Geflüchteten im eigenen Land senken und den Einfluss der kurdischen Mehrheitsbevölkerung in Nordsyrien untergraben.

Basisdemokratie im Kriegsgebiet

Inmitten des Bürgerkriegs, dem IS-Terror und den türkischen Angriffen ist in Rojava ein teils viel beachtetes Gesellschaftsprojekt entstanden, in das weltweit viele Linken Hoffnungen und damit verbunden auch Idealisierungen setzten. Nach Jahrzehnten der Diktatur und Unterdrückung soll in Rojava eine Gesellschaft aufgebaut werden, die auf Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter, Religionen und Ethnien beruht. Dazu wurden im Rahmen der Selbstverwaltung demokratische Basisstrukturen und Räte gebildet und in der Verwaltung Quoten eingeführt, die die Teilhabe aller Ethnien und Religionen sichern soll. Charakteristisch ist zudem, dass alle Führungsämter in Politik und Verwaltung aus einer Doppelspitze aus einem Mann und einer Frau bestehen. Die Selbstverwaltung gilt auch für große Teile der Justiz. Auf Dorfebene entscheiden sogenannte Gerechtigkeitsräte auf Basis von Recht und Verfassung fast 70 Prozent aller Delikte. Schwere Verbrechen liegen jedoch weiter in der Hand von Gerichten.

Die Bemühungen der Selbstverwaltungen werden aber nicht zuletzt durch ständigen Mangel innerhalb der Kriegswirtschaft gebremst. Das wirtschaftliche Leben ist von kleinen privatwirtschaftlichen Unternehmungen und einer spärlichen Selbstversorgung in der Landwirtschaft geprägt. Die Staatseinnahmen kommen wesentlich aus dem Verkauf von Öl. In Rojava befinden sich die größten Vorkommen des Rohstoffs in Syrien. Mangels jeglicher Industrie wird das Öl aber vor allem innerhalb des Landes unveredelt weiterverkauft. Diese Einnahmen nutzt der Staat hauptsächlich, um Brot und Medikamente zu subventionieren. Immer wieder kommen auch Vorwürfe an einer zu dominanten Rolle kurdischer Parteien und Organisationen. Amnesty International warf den PYD-nahen Volksverteidigungseinheiten die Vertreibung von nicht-kurdischer Bevölkerung vor. Eine Untersuchung der UN konnte diesen Vorwurf nicht bestätigen. "Die Selbstverwaltung hat es in den letzten Jahren geschafft, zur stabilsten Region Syriens zu werden", zieht Bilal nach über einem Jahrzehnt eine positive Bilanz. Er ist 2019 aus der kurdischen Diaspora in Deutschland nach Rojava gekommen, um sich beim "Aufbau der Gesellschaft einzubringen".

Aktuell sind es aber vor allem die türkischen Angriffe, die das Gesellschaftsmodell in Rojava, aber auch die Bevölkerung am stärksten bedrohen. Die aktuelle Militäroffensive ist bereits die vierte seit 2016. Zudem steht die Region auch außerhalb dessen unter nahezu ständigem Beschuss aus der Türkei. Allein 2022 wurden bei den 130 türkischen Drohnenangriffen 87 Menschen getötet und 151 Menschen verletzt. Die syrische Bobachtungsstelle für Menschenrechte stuft die aktuellen Angriffe der Türkei als "Kriegsverbrechen" ein, für die das Nato-Land zur Rechenschaft gezogen werden müsste. Sie fordert die internationale Gemeinschaft dazu auf, "wirksamen Druck" auf das Erdoğan-Regime zu machen, "um ihre absurde Militärkampagne und Aggression gegen die syrische Zivilbevölkerung zu beenden".

Internationales Schweigen zum Krieg

Doch während Erdoğan die israelische Blockade der Strom- und Gasversorgung in Gaza als Verletzung der Menschenrechte kritisiert und selbst Elektrizitätswerke, Krankenhäuser und die Wasserversorgung in Rojava bombardiert, schweigt die internationale Gemeinschaft. Auch das deutsche Außenministerium wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Die Lage werde beobachtet und die Türkei berufe sich auf ihr Selbstverteidigungsrecht, war aus dem Auswärtigen Amt nur zu hören. Das militärische Vorgehen müsse immer im Einklang mit dem Völkerrecht stehen und alles unterbleiben, was die Gewaltspirale in der Region weiter anheize und den Schutz der Zivilbevölkerung gefährde, so Kreise aus dem Außenministerium.

Die USA ist noch mit einem vergleichsweise kleinen Truppenkontigent von 900 Soldaten in Rojava vertreten. Die Truppen sind vor allem um die Ölfelder im Osten stationiert. Während der türkischen Angriffe kam es dabei zu einem Zwischenfall zwischen den Nato-Partnern. US-Truppen schossen eine türkische Drohne ab. "Es besteht kein Zweifel daran, dass dieser Vorfall in unserem nationalen Gedächtnis verankert ist und zu gegebener Zeit werden die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden", drohte Erdoğan danach mit Konsequenzen. "Drittparteien" hätten sich von türkischen Zielen fernzuhalten, so der türkische Machthaber. Gleichzeitig erklärte er in der vergangenen Woche die "erste Phase" der Offensive für "erfolgreich abgeschlossen". Und kündigte an, dass "die Operationen in größerer Stärke und Kraft fortgesetzt" würden.

Nach knapp einer Woche hätten die Luftschläge der Türkei nachgelassen, berichtet Bilal. In Dêrik und der gesamten Region seien die Menschen nach den Angriffen noch stärker zusammengerückt. Bereits nach zwei Tagen habe es durch die "große Improvisationserfahrung der Gesellschaft" zumindest manchmal wieder Strom gegeben. Auf der Trauerfeier für die 29 Opfer eines Luftangriffs auf die Anti-Drogen-Polizei in Dêrik habe der Vater eines der Verstorbenen in seiner Trauerrede vielen aus dem Herzen gesprochen: "In meiner Familie gibt es mittlerweile 22 Gefallene, aber wir müssen weiter Widerstand leisten."


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1 Kommentar verfügbar

  • Reinhard Schantz
    am 18.10.2023
    Antworten
    neben dem Aufruf der Organisationen in Palästina u Israel ist das diesmal der zweite Beitrag, über den ich mich sehr freue. Danke dafür!

    Dass unsere Hauptmedien darüber nicht oder nur stiefmütterlich berichten, ist beschämend.
    Auch die Reaktion der Bundesregierung ist schändlich zurückhaltend.…
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