Auch im lange liberalen Sulaimani zeigt sich die wachsende Macht religiöser Kräfte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion ließ der Vorsitzende der PUK, Bafel Talabani, unter dem Jubel der Islamisten alle Nachtclubs im Ausgehviertel Sarchinar schließen. Der islamistische Einfluss wächst auch innerhalb der PUK. Die Islamisten würden zum Gegenschlag ausholen und gesellschaftliche Errungenschaften für Frauen zurückdrehen wollen, sagt Hardi. 2011 wurde Vergewaltigung in der Ehe und die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) strafbar – salafistischen Gruppen sei dies schon lange ein Dorn im Auge. Hardi geht davon aus, dass diese Gruppen mit Geld aus Katar, Saudi-Arabien und von der Muslimbruderschaft unterstützt werden. "In einer Region, in der Schulen, Kindergärten, Spielplätze und Straßen fehlen, wurden allein in den vergangenen 20 Jahren 5.000 Moscheen gebaut."
Doch auch Hardi will sich nicht unterkriegen lassen. Sie ist nach Sulaimani zurückgekehrt und hat neben ihrem Haus eine Veranstaltungshalle und eine Residenz für Künstler:innen gebaut, die auch als Safe Space für Frauen zur Verfügung stehen soll. "Wir haben alles investiert, was wir haben", sagt Hardi, die das Projekt mit ihrem Mann aufgebaut hat. Die Entwicklung in Kurdistan sei ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Desaster. "Die Gesellschaft ist voll von Ungleichheit. Kreativität und Kunst bieten die Möglichkeit zur Flucht aus der Realität."
Labile Eigenständigkeit
Mitten in der Stadt gibt es einen weiteren Ort, der für Aufbruch stehen könnte. Auf dem Gelände einer ehemaligen Tabakfabrik wurde vor drei Jahren ein Zentrum für Kunst, Kultur, Sport und Wirtschaft aufgebaut. Werkstätten, Ateliers, Theater, Kursangebote und Diskussionsräume sollen den Menschen zur Verfügung stehen. Inspiriert wurde die Idee aus Europa, sagt Khabat Marouf, der lange in Wien lebte und dort das Werkstätten- und Kulturhaus (WUK) schätzen lernte. "Wir wollen Menschen animieren, etwas zu tun." Seit knapp einem Jahr seien alle renovierten Räume in zwei Gebäuden vergeben. Allein ein Gebäude umfasst 12.000 Quadratmeter. Die Gruppen zahlten nur die Betriebskosten, die vielen noch unrenovierten Hallen könnten kostenlos für Theater- oder Filmproduktionen genutzt werden, erzählt Marouf.
Doch es gibt viele, die das riesige Gelände am Rande der zentralen Straße Sulaimanis besser für weitere Malls, Hotels und andere kurzfristig lukrative Bauprojekte genutzt sähen. Seit 2011 kämpfte Marouf mit seinen guten Kontakten in die Politik für die heutige Nutzung. "Das Gebäude sollte abgerissen werden, aber wir wollten es halten. Es konnte noch gut genutzt werden." An seiner Seite stand Hero Talabani, die Frau des früheren irakischen Staatspräsidenten, mit deren Unterstützung das Grundstück aus dem Eigentum des Wirtschafts- in die Hände des Kulturministeriums wechselte. Damit es in der ehemaligen Tabakfabrik friedlich bleibt, hat Marouf eine klare Regel für die Raumvergabe ausgegeben: "Keine Parteien, keine Religion, sonst kommen andere nicht mehr."
Trotz der kleinen Inseln der Hoffnung ist bei vielen irakischen Kurd:innen die Resignation inzwischen so groß, dass sie sich aus der Autonomie wieder in die Kontrolle der irakischen Zentralregierung wünschen. Zugleich nimmt der internationale Druck auf die Autonomieregierung zu. Erstmals formulierte das US-Außenministerium in einem Bericht zur Lage der Menschenrechte im vergangenen Monat harte, öffentliche Kritik an der herrschenden Korruption und politischen Verfolgung von Journalist:innen und Oppositionellen. Die langjährige Schutzmacht fordert eindringlich ein Ende der Zweistaaterei. Zudem hat ein Internationales Schiedsgericht in Paris Ende März den illegalen Öllieferungen aus der Autonomieregion in die Türkei ein Ende gemacht. Die Türkei hat umgehend angekündigt, ihr Öl künftig nur noch von der irakischen Zentralregierung und damit vorbei an den Taschen der kurdischen Elite zu beziehen. Die fällige Strafzahlung in Milliardenhöhe für die Öllieferungen der Vergangenheit, die die Türkei für die nunmehr illegalen Öltransporte an die irakische Zentralregierung zahlen muss, fordert Erdogan wiederum von der kurdischen Autonomieregion ein. So steigt zur wachsenden Spaltung im Inneren auch die Intensität der Konflikte nach außen. Der kurdischen Autonomieregion könnte nicht nur der gesellschaftliche, sondern auch der finanzielle Kollaps drohen.
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Cumali Mol
am 09.05.2023