In der Tat. Nirgendwo wurde der damals wütende Krieg, der in mehrheitlich kurdischen Städten der Südost-Türkei ausgetragen wurde, wirklich thematisiert. Stillschweigend wurde hingenommen, dass ein NATO-Partner die eigenen Städte, die eigene Bevölkerung bombardiert. Auch im Westen der Türkei herrschte eine eigentümliche Stille. Viele verharrten in ungläubiger Schockstarre, die kritischen Menschen fühlten sich allein und hatten den Eindruck, sie könnten nichts tun, außer dem Grauen zuzuschauen. Und dann kam der Aufruf der FriedensakademikerInnen.
Dieser wurde im Umfeld der UnterstützerInnen durchaus kontrovers diskutiert. Für Betül Yılmaz lobt er zu sehr den zuvor gelaufenen Friedensprozess, auch Taylan hält den Aufruf für zu liberal. Der Aufruf hebe den Staat in ein zu positives Licht, indem er demütig von ihm wieder eine Rückkehr zum Friedensprozess fordere. Aber er fügt hinzu: "Ich nannte mich einen Revolutionär, machte aber nichts, während reihenweise kurdische Städte dem Erdboden gleichgemacht wurden." Und deshalb unterschrieb er den Aufruf und würde ihn jederzeit erneut unterzeichnen. Bei allen Differenzen eint die UnterzeichnerInnen nämlich die Wut und die Empörung über den staatlichen Vernichtungsfeldzug im Südosten und der Wunsch, nicht mehr schweigend zusehen zu wollen.
Über 100 000 Menschen stellen sich hinter den Aufruf
Der Aufruf brach einen Bann. Innerhalb weniger Wochen nach Erdoğans Hassrede auf die FriedensakademikerInnen solidarisierten sich zusätzliche Intellektuelle, auch aus dem Ausland. Es gesellten sich JournalistInnen, SchauspielerInnen und viele andere dazu. Insgesamt waren es über 100 000 Menschen, die sich öffentlich hinter den Aufruf stellten. Erdoğans Antwort darauf war umfassende Härte, um weitere UnterstützerInnen abzuschrecken. Mit dem berüchtigten Dekret Nr. 686 vom 7. Februar 2017 wurden schließlich über 2000 zumeist linke LehrerInnen und AkademikerInnen ihres Amtes enthoben. Auch Betül Yılmaz gehörte dazu. Da war sie schon seit einem Monat in Tübingen.
Denn Yılmaz wusste, dass es sie als langjährige Aktivistin sehr rasch treffen würde. "Ich habe schon zuvor zahlreiche absurde Verfahren erlebt und wusste, dass ich in Gefahr bin." Kurze Zeit später erfuhr sie von ihrer Entlassung. Taylan wollte gerade eine Stelle an einer Universität in Istanbul antreten, da kam der Militärputsch. Seitdem läuft sein Aufnahmeverfahren und ein Ende ist nicht in Sicht. Er hat sich deshalb für eine Postdoc-Stelle bei den Tübinger Soziologen entschieden. Für ihn war klar: "Wie soll ich denn Soziologie in der Türkei lehren, wenn sogar ParlamentarierInnen ins Gefängnis gesteckt werden?"
Tebessüm Yılmaz schließlich ist eine derjenigen, die de facto suspendiert wurden. Seit über einem Jahr läuft ein Disziplinarverfahren gegen sie, sie kann ihre Dissertation in der Türkei nicht fortsetzen und wird nirgends mehr angestellt. Grund ist ihr Promotionsthema. Sie schreibt über staatliche Gewalt in Kurdistan. Ihre Doktormutter warnte sie nach Erdoğans Rede: "Dein Dissertationsthema war schon immer problematisch. Jetzt ist es schlicht nicht mehr akzeptabel." Sie stellt Yılmaz vor die Wahl: "Entweder du änderst dein Thema oder du suchst dir eine andere Dissertationsstelle. Denn damit gefährdest du auch mich."
Betül Yılmaz will in Tübingen ihre Forderungen verbreiten
Am 18. März fand in Tübingen eine große Kundgebung zur Solidarität mit den AkademikerInnen und gegen die Unterdrückung von Meinungsfreiheit und für die Demokratie in der Türkei statt. Betül Yılmaz meint, damit sei ihr Ziel erreicht, ihre Geschichte hier vor Ort zu erzählen. Ab April wird sie, vermutlich gemeinsam mit Taylan, ein Mal pro Woche vor der Universitätsbibliothek Tübingen einen Stand machen, wo sie ihre Forderungen vorträgt. Sie sieht noch keine ausreichende akademische Solidarität und fordert Fernstudienprogramme und Stipendien von hiesigen Universitäten für AkademikerInnen, die in der Türkei nicht mehr arbeiten oder sie nicht mehr verlassen können.
Tebessüm Yılmaz hingegen hat Probleme damit, wie die FriedensakademikerInnen in Deutschland wahrgenommen werden. "Insbesondere die staatlichen Stellen hier wollen uns dazu drängen, dass wir Asyl beantragen. Aber das wollen wir nicht. Wir sehen uns in erster Linie als politische Subjekte, nicht als Opfer. Oft genug werden wir nicht mehr als AkademikerInnen und Forscherinnen wahrgenommen." Sie kritisiert zudem eine selektive Solidarität, die den akademischen Hintergrund des Aufrufs ins Zentrum rückt: "Man solidarisiert sich mit uns als oppositionelle Akademiker aus der Türkei, nicht als Oppositionelle im Allgemeinen." Derzeit organisieren die FriedensakademikerInnen die Nein-Kampagne zum Referendum um die derzeit laufende Präsidialverfassung.
Johanna Bröse ist Sozialwissenschaftlerin an der Universität Tübingen. Sie ist zudem als freie Journalistin und Redakteurin tätig.
Alp Kayserilioğlu lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Istanbul und Köln.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!