In Deutschland leben drei Millionen türkischstämmige Menschen. Die Spaltung der türkischen Gesellschaft setzt sich in Deutschland fort. Ist die Integration dieser Menschen bei uns gescheitert?
Nein, davon kann keine Rede sein. Allerdings habe auch ich einen großen Schreck gekriegt, als ich nach dem Putsch gesehen habe, was sich hier auf den Straßen in Stuttgart oder in Berlin und anderen großen Städten in Deutschland abgespielt hat. Wo schreiende Menschen mit riesigen Fahnen aufgetaucht sind, wo Scheiben eingeworfen wurden. Es gab und gibt allerdings genauso viele, die diese Auseinandersetzungen auf der Straße aufs Tiefste verachten. Sie sind überzeugte Demokraten. Was nicht ausschließt, dass es auch hier Menschen aus der Türkei gibt, die besinnungslos einem Führer nachlaufen. Das ist gefährlich. Und es ist unsere Aufgabe, mit diesen Menschen zu reden und ihnen klarzumachen, dass es so etwas bei uns nicht geben kann.
Sie haben sich immer für die Integration der Türken in Deutschland eingesetzt, Sie wurden mit dem ersten Manfred-Rommel-Preis des Deutsch-Türkischen Forums in Stuttgart ausgezeichnet. Noch einmal die Frage: Fühlen sich nun diejenigen bestärkt, die immer Zweifel an einer Integration hatten?
Natürlich flammen diese Zweifel wieder auf, weil sich einige türkische Mitbürger nicht an unsere Überzeugungen und Regeln halten. Doch bin ich sehr zuversichtlich, dass es keinen Rückschlag für die Integration geben wird. Wir müssen uns allerdings die Mühe machen, auch die schreienden Erdoğan-Anhänger ernst zu nehmen und ihnen zu erklären, dass wir in Deutschland eine andere Auffassung von Demokratie und Menschenrechten haben, an die sich jeder zu halten hat.
Viele der liberalen und säkularen Türken hier schweigen oder sind zumindest leiser als die Erdoğan-Anhänger. In Deutschland herrscht kein Ausnahmezustand. Warum hört man höchstens verhaltene Stimmen, die sagen: Wir sind nicht einverstanden?
Ich wage zu behaupten, dass das mit einer noch nicht abgeschlossenen demokratischen Entwicklung zu tun hat. Schon in der Nachfolge von Atatürk sind in der Türkei immer Ansätze zu einem demokratischen Weg verfolgt worden. Sie wurden aber festgemacht an Leadern, an führenden Persönlichkeiten. Man folgt einer Person X, das ist die Verkörperung der Partei Y. Es fehlten die gewachsenen parteipolitischen Strukturen, an die wir bei uns gewöhnt sind. Auch unsere demokratischen Parteien werden natürlich durch Persönlichkeiten verkörpert. Doch daneben gibt es eine große Zahl von Menschen, die um den Weg ihrer Partei streiten. Wenn wir heute in eine solche Putschsituation kämen, gäbe es genügend Leute, die auch ohne Aufforderung von Frau Merkel für die Grundprinzipien der Demokratie auf die Straße gehen und sich wehren würden.
Sie sind ein Optimist, Herr Reuter. Aber bleiben wir in der Türkei. Vor drei Jahren sind die Menschen in Istanbul für die Erhaltung des Gezi-Parks auf die Straße gegangen und haben von ihrem demokratischen Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit Gebrauch gemacht. Das Ergebnis kennen wir.
Dieser landesweite Aufstand wurde mit Wasserwerfern und Tränengas niedergeschlagen. Doch diese Proteste waren auch Kennzeichen einer im Werden begriffenen jungen Demokratie. Es gibt sie also, und deswegen wäre es so fatal, wenn Herr Erdoğan diese Wurzeln jetzt mit Gewalt herausreißen würde.
Viele Türken, ob dort oder in Deutschland, haben Angst um ihre Familie, fürchten um ihre Geschäfte, um ihre wissenschaftliche Ausbildung. Und schweigen bewusst. Sie haben maßgeblich die Entwicklung der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul vorangetrieben. Haben Sie auch Angst?
Zusammen mit vielen anderen engagiere ich mit seit einigen Jahren dafür, dass die Türkisch-Deutsche Universität auf die Beine kommt. Das ist ein Pflänzchen, das sich hervorragend entwickelt hat. Die Universität hat heute bereits drei Fakultäten und sie ist immer noch am Wachsen. Auf deutscher Seite wird diese wissenschaftliche Zusammenarbeit geführt von Frau Süssmuth, und auch der frühere Stuttgarter OB Wolfgang Schuster engagiert sich. Natürlich muss man sich da überlegen, wie deutlich man sich zur derzeitigen Situation äußert. Insofern mache ich mir große Sorgen. Um vieles mehr gilt das natürlich für die türkischstämmigen Familien, die ich gut kenne. Keine von ihnen würde einen Militärputsch gutheißen, keine von ihnen würde einer demokratisch gewählten Regierung widersprechen, keine von ihnen würde den Irrlehren des Fetullah Gülen folgen wollen. Umso mehr fördert es die Angst, wenn der Ausnahmezustand verkündet wird, wenn offensichtlich ohne Grund verhaftet wird.
4 Kommentare verfügbar
Blender
am 27.07.2016Auch…