Herr Reuter, ist die Demokratie stabiler oder instabiler, die soziale Lage gerechter oder ungerechter geworden?
Die Behauptung ist schon zur Mode geworden, Deutschland sei eine in sich ruhende, gefestigte Nation in Europa, und das unter Führung einer Bundeskanzlerin, die international Respekt genießt und Autorität hat. Die Mehrheit der Deutschen denkt, dass es ihr gut geht. Und dass es – so heißt es – keinen Grund zur Sorge gebe, wenn uns nicht irgendwelche Gauner aus anderen Ländern das Geld aus der Tasche ziehen.
Also alles bestens.
Nein. Es gibt in Deutschland zahllose Stammtische, diese schwer fassbare informelle Kommunikation in den Vereinen, den Familien. Da spielt Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Antisemitismus eine Rolle. Und da werden immer mehr Fragezeichen gesetzt: Ist Deutschland wirklich so sicher und stabil, wie es nach außen scheint? Es gibt Wissenschaftler, die weisen auf Ängste der Mittelschichten hin. Auch bei uns ist inzwischen der übergroße Teil des Volksvermögens in der Hand von ganz wenigen. Mittelschichten und Mittelständler ängstigen sich angesichts der zunehmenden sozialen Polarisierung und fürchten, dass sie nach unten abrutschen.
Warum bleibt diese Unruhe unter der Oberfläche?
Diese Unruhe hat sich selbst noch keine Organisationsform gegeben. Schauen Sie aber nach Dresden. Da haben sich doch viele unter dem Banner Pegida zusammengefunden, die ihre sehr unterschiedlichen Unsicherheiten ausdrücken. Und wie schnell sich so viele Menschen gefunden haben! Auch wenn Pegida offenbar schon wieder vorbei ist, zeigt das Phänomen, was da alles unter dieser scheinbar ruhigen Oberfläche steckt. Es wäre für unsere Demokratie vermutlich gut, wenn es gefestigte Organisationen gäbe, in der sich solche diffusen Gefühle ausdrücken und sammeln könnten. Ich wähle die Linkspartei nicht und finde sie in vielen Teilen schlimm. Aber es ist gut, dass es sie gibt. Auf der rechten Seite des Spektrums könnte sich die AfD, die Alternative für Deutschland, entsprechend entwickeln.
Anhänger und Gegner des Bahnprojekts "Stuttgart 21" gehen auf die Straße, Anhänger und Gegner von Einwanderung ebenfalls – wie verändert sich das politische Bewusstsein?
Für mich sind das Anzeichen für eine in Teilen lebendige Bürgerschaft. Vor allem ist es jedoch eine Reaktion auf das Verhalten der Großen Koalition, die unter der Führung von Kanzlerin Angela Merkel jedes Problem sofort angeht – und zumeist handwerklich auch irgendwie abhakt. Aber dabei bleiben dann grundlegende Probleme liegen. Eine Gesellschaft muss darüber reden und streiten. Diese Regierung erledigt jedes Problem und von jedem Problem jedes Detail. Formal wird also alles erledigt. Aber warum es erledigt wird, warum es so und nicht anders erledigt wird, ob sich diese handwerkliche Arbeit an einer großen politischen Linie orientiert, welche Linie das ist, wie sie begründet wird – von all dem, was ja eine Demokratie in ihrem Kern ausmacht, davon hören Sie kaum je ein klares Wort. Hören Sie etwas darüber, wie die Parteien und die Kanzlerin Europa weiterentwickeln wollen, was Deutschland auf dieser Welt erreichen will, wie die moderne Infrastruktur aussehen und finanziert werden soll?
2 Kommentare verfügbar
Ulrich Frank
am 18.07.2015