Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist noch immer ein Hoffnungsträger der Demokratie des Gehörtwerdens. Der 66-jährige Grüne hat in einem traditionellen CDU-Bundesland einen sensationellen Rückhalt in der Bevölkerung. 72 Prozent der Baden-Württemberger loben seine Regierungsarbeit. Er beeindruckt durch einen bodenständig-knorrig-reformerischen Ansatz. Die Bürgerinnen und Bürger verstehen ihn. Er hört zu, er diskutiert mit sympathischer Leidenschaft. Er kann Menschen sogar begeistern. Potenzielle Kritiker macht er weich und sieht sich bisher nicht ernsthafter Kritik in seiner PolitikerpPersönlichkeit ausgesetzt. Die Bürgerinnen und Bürger staunen anerkennend: Der ist noch nicht von der Macht verbogen. Für ihn gilt das abgewandelte Theodor-Heuss-Zitat für die Bürgernähe: Der Ministerpräsident geht jetzt ins Bett, aber der Winfried bleibt bei euch hocken.
Kretschmann hat mit empathischer Überzeugung eine Demokratie des Gehörtwerdens proklamiert. In der Regierungserklärung von 2011 heißt es, einen Aufbruch signalisierend: "Die Zeit des Durchregierens von oben ist zu Ende. ... Diese Regierung wird eine Politik des Gehörtwerdens praktizieren. ... Für mich ist die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung." Und im Koalitionsvertrag heißt es stimulierend: "Wir wollen Baden-Württemberg zum Musterland demokratischer Beteiligung machen" und "Mehr Bürgerbeteiligung auf allen Entscheidungsebenen". Kretschmann hat sich theoretisch und philosophisch von Hannah Arendt inspirieren lassen, die das Gehörtwerden in den Mittelpunkt einer lebendigen, direkten Demokratie rückte. Nach mehr als drei Jahren – eine Erfolgsstory? Oder eher nur ein symbolisch-atmosphärischer Stilerfolg? Den Mund erwartungsfroh gespitzt und dürftig geliefert?
Kleines Blümchen mit schwachem Wachstum
Eine genauere Analyse sagt: Kretschmanns Demokratie des Gehörtwerdens ist bisher eher noch substanzlos. Ein kleines Blümchen mit schwachem Wachstum. Nicht etwa, weil mächtige Interessengruppen, die Medien oder die Konkurrenz zwischen SPD und Bündnis 90/Den Grünen das vehemente Demokratieanliegen blockierten oder die CDU-Fraktion Kretschmann bisher ernsthaft bedrängen hätte können. Nein, es liegt daran, dass Kretschmann selbst seine ursprünglich ambitionierten Ideen kaum zu realisieren versucht und seine Beraterstäbe von nicht gerade kreativer Professionalität sind.
Das alles ist von einer eher konfliktscheuen Bewegung gegen Stuttgart 21 flankiert, die noch nicht einmal wagt, ihr über den S-21-Konflikt hinausgehendes Demokratieinteresse für das Ländle zu artikulieren. Diese Konstellation ist es, die keine wirklich ernsthafte Debatte über die Demokratie des Gehörtwerdens zulässt: Die Landesregierung wurstelt dahin, die Bewegung gegen Stuttgart 21 trauert und leckt sich die Wunden. Und die Medienöffentlichkeit war lange auf das CDU-Mappus-Debakel fixiert und stellt sich erst vorsichtig auf das landespolitische Duell Kretschmann – Wolf (CDU) ein. Vom Gegenspieler von Kretschmann, Guido Wolf, ist zur Frage von "mehr Demokratie" nichts bekannt geworden, was Aufmerksamkeit verlangte.
Die These von Kretschmanns bisher weitgehend leerem Versprechen zur Revitalisierung der Demokratie lässt sich schlüssig eher an den Unterlassungen und an den wenig brauchbaren, eher einsilbigen Konzepten und Aktivitäten nachweisen.
Wirtschaft und Koalition sind eben wichtiger
Kretschmann hat schon bei der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 allenfalls in Gestalt eines Gummilöwen und nicht als wirklich engagierter Ministerpräsident gehandelt. Zugespitzt: Die Erlangung von Grünen-Macht war ihm schnell wichtiger als eine glaubwürdige, kompromissauslotende Vertretung des S-21-Protest-Anliegens. Mitten im Volksabstimmungs-Wahlkampf über neun Tage mit Unternehmern eine Open-Door-Reise für die Wirtschaft in Südamerika zu unternehmen ist eher ein fragwürdiges Signal. Kurzum: Im Wahlkampf im Rahmen der Volksabstimmung hätte man gern Kretschmann und seine Partei mehr kämpfend auf den Marktplätzen von Rottweil, Freiburg und Stuttgart gesehen. Nein, die Wirtschaft und die Koalition waren ihm wichtiger.
20 Kommentare verfügbar
Kornelia
am 20.05.2015Es waren zu viele Kräfte am Ball, die ihr Müttchen kühlen wollten!…