KONTEXT:Wochenzeitung
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King of BaWü

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Winfried Kretschmann kann Fliesen legen, Trockenbauwände einziehen, Terrassen bauen, Gärten anlegen, Briefkästen basteln. "Alles außer Schweißen", sagte er mal in einem Interview. Kretschmann ist universal begabt. Er kann sogar Ministerpräsident für alle sein. Dafür lieben ihn drei Viertel der Baden-Württemberger.

"Sie müssen mal genau hinschauen, wie toll der ist", sagt Winfried Kretschmann. Er sitzt in seinem Büro im Landtag, schwarze Leder-Couchgarnitur, Schreibtisch, ein Spiegel. In der Hand hält er ein iPhone mit dem Foto seiner neuesten Eigenkreation: ein wuchtiger Gartentisch aus Fichtenholz. Kretschmann zeichnet eine Welle in die Luft. "Abgerundete Ecken, beinfrei, stabil, schwer."

Er lehnt sich ins Leder zurück. "Dieser Gartentisch ist ein wohldurchdachtes Modell", sagt er über die Ränder seiner Brille hinweg. "Sowas können Sie nicht kaufen." Er lächelt zufrieden.

Das Handwerken hat er früh gelernt, so ist er aufgewachsen. Auf dem Land, mit nichts bis wenig und wenn die Familie etwas brauchte, hat sie es selbst gemacht. Selber machen müsste er heute nichts mehr, aber er tut es trotzdem – aus Leidenschaft. Sein ganzes Haus im oberschwäbischen Laiz hat er eigenhändig renoviert. "Das er im innern Herzen spüret, was er erschaffen hat mit seiner Hand", wusste schon Schiller, und die Losung im Südwesten Deutschlands heißt ja bekanntlich "Schaffa, schaffa, Häusla baua" und nicht "Häusla baua lassa".

"Als Schwabe befindet man sich automatisch am anderen Ende der Popularitätsskala", hat Ulrich Kienzle, Journalist und Schwabenkenner, einmal gesagt. Winfried Kretschmann, Herr über 36 000 Quadratkilometer wirtschaftliches Schwungrad Europas, hat dieses Dogma ins Gegenteil verkehrt. So allumfassend beliebt wie er war bisher kaum ein schwäbischer Politiker. 

Bundesweit listet ihn das ZDF-Politbarometer auf Platz vier der beliebtesten Politiker, zwischen Frank-Walter Steinmeier auf der Drei und Sigmar Gabriel auf der Fünf. Wo Stefan Mappus und Günther Oettinger landesweit immer irgendwo bei 40 Prozent Zustimmung rumdümpelten, schenken Kretschmann nach Umfragen von Infratest dimap derzeit 70 Prozent der Baden-Württemberger ihr Herz – sogar stramme CDU-Wähler.

Der hilfsbereite Nachbar von nebenan

Olaf Scholz hat das kürzlich geschafft, Stanislaw Tillich, aber das jeweils im Wahlkampf. Einfach anlassfrei so gute Umfragewerte bekommen derzeit nur Kretschmann landes- und Angela Merkel bundesweit hin. Kretschmann sei schon ein Top-Wert, sagt die Sprecherin von Infratest dimap. Zum Politischen Aschermittwoch in Biberach hat ihm einer ein Schild gebastelt und es zweieinhalb Stunden tapfer hochgehalten: der Ministerpräsident mit Krone auf dem Haupt. Der King of BaWü. Mister 70 Prozent. Kürzlich habe er seinem Nachbarn beim Dämmen eines Zimmers geholfen, weil der ein paar Hände mehr brauchte, erzählt Kretschmann. Für diesen schaffigen Nachbar-von-nebenan-Habitus lieben ihn die Leute im Land.

"Diese Komplexität!", schwärmt der Chef der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung Denkendorf (DITF), 18 Millionen Forschungsgelder jährlich für die Carbon- und Keramikfaserentwicklung, einer der Hidden Champions, von denen es im Land der Tüftler und Denker nur so wimmelt. Er hält ein Y-förmiges Flugzeugteil in die Höhe, mausgrau, wiegt fast nichts. "Wie lange hält das?", fragt einer. "Lange", sagt der Chef. 

Neben ihm steht Winfried Kretschmann, stoisch unbewegt, dahinter nervöse Mitarbeiter, gestaffelt nach Rangordnung, Kreisräte, der Landrat, der Bürgermeister von Denkendorf, drei Leibwächter mit Ringelkabeln in den Ohren,­­ insgesamt eine Entourage von rund 30 Leuten, die sich und den MP in Windeseile ("Wir haben wenig Zeit!") durch vier Firmenabteilungen schiebt. Der letzte Ministerpräsident, der zu Besuch da war, war Lothar Späth mit Michail Gorbatschow im Gefolge. Das war im Juni 1989.

Die Mitarbeiter von DITF haben quer durch ihre Firma Stände aufgebaut, Vitrinen, Präsentationstische, auf denen unterschiedliche Fasern auf sauber beschrifteten Pappkärtchen kleben. Ein Mann steht an einer immensen Webmaschine und drückt auf Start. Die Maschine knallt und zischt und webt zuckend ein maximal stabiles Tuch. Kretschmann guckt fünf Sekunden. Dann geht er weiter.

Als wäre der Papst zu Besuch

Eigentlich geht Kretschmann nicht, er schreitet, sehr gerade, würdevoll, er spricht kaum, nickt nur hier und da anerkennend. Ein König, der sich von seinen Untertanen durch Ecken seines Reiches führen lässt, die er noch nicht kennt. In seinem Kielwasser schwimmen Erleichterung, Schulterklopfen und glücklich erhobene Daumen.

Die Chefsekretärin des Fasern-Geschäftsführers steht da, aufgelöst und kurz vor der Hyperventilation. "Winfried Kretschmann ist was ganz Besonderes", sagt sie und atmet einen Schwall Begeisterung aus. "Immer wenn ich ihn im Fernsehen sehe, bin ich stolz, dass wir jetzt so einen Ministerpräsidenten haben. Der spricht Schwäbisch!", sagt sie mit einem Glanz in den Augen, als wäre der Papst zu Besuch und nicht ein Meter dreiundneunzig hohes und 66 Jahre altes präsidiales Anthrazit mit Bürstenhaarschnitt.

Kretschmann sei früher mal ein Womanizer gewesen, sagt man. Der Einzige, der auf Grünen-Parteitagen den Frauen auch mal einen Kaffee eingeschenkt habe, anstatt die Tasse hinzuhalten. Die Sekretärin wedelt sich mit der einen Hand Luft ins Gesicht. Zwei Wochen hat die gesamte DITF-Mannschaft für den MP geputzt. Die Firma sei noch nie so sauber gewesen. 

Kretschmann nimmt eine Faser in die Hand, zupft mit zwei Fingern, legt sie wieder an ihren Platz. "Unheimlich reißfest", sagt er, zwei von allerhöchstens drei Dutzend Worten an diesem Nachmittag. Er spreche nur das Wesentliche und formuliere klare und kurze Sätze, sagt der DITF-Vorstand Andreas Bisinger später bewundernd. "Nicht so verschwurbelt und unverständlich wie andere Politiker." Eigentlich findet er den neuen MP ganz spannend. "Der bringt mal frischen Wind ins Land." Es seien ja immer mehr die Menschen, die Politik machen, weniger die Parteien.

"Ein Politiker muss nicht wirklich strahlen"

Kurz nach der Landtagswahl 2011 schwärmte der damalige Bürgermeister von Laiz in einem Spiegel-online-Video von einem Windrad, das sich der MP gebaut habe, um sich Luft zuzufächeln. "Jedes Mal, wenn er heimkommt, schaut er, wie viel Strom es erzeugt hat." Stimmt nicht, sagt Kretschmann. Das kleine Windrad – eine Legende also. Aber eine, die sich tapfer hält, weil sie so gut passt zum ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands, dem begabten Bastler vom Dorf.

Eine Variable der Politiker-Beliebtheit und noch dazu die schwierigste sei das Auftreten, sagt Friedbert Rüb, Politiksoziologe der Humboldt-Universität in Berlin. "Eine eigene Art zu reden und sich zu bewegen, das reicht schon, um Sympathie zu erwecken", sagt er. "Dabei muss ein Politiker nicht einmal wirklich strahlen, um anzukommen", das tue Angela Merkel ja auch nicht und wäre trotzdem immer die Number one.

Am späten Nachmittag steht Kretschmann in einem Klassenzimmer der Gemeinschaftsschule Deizisau, ein grün-rotes Prestigeprojekt. Die Schüler, sechste Klasse, haben Tische aufgebaut mit Büchern und Heften, Klassenplänen und selbst gebastelten Fahrzeugen aus Fischdosen mit Propellerantrieb. Kretschmann lässt sich artig von einem bezopften, vorwitzigen Mädchen am Ärmel ziehen: "Los, Herr Kretschmann, wir müssen jetzt wirklich weiter, die Parallelklasse will Ihnen ja auch noch was zeigen."

Auf dem Flur warten Lehrer und Eltern zwischen Bistrotischen. "Winfried Kretschmann ist absolut integer. Und das bei all der Korruption, die es heute gibt", sagt eine Elternvertreterin. "Er ist einer von uns", sagt eine andere und beißt in ein selbst gebackenes Blätterteigteilchen. "Er ist einer der wenigen Politiker, denen man vertrauen kann", sagt ein Lehreranwärter. "Kretschmann ist ehrlich. Das ist was Besonderes." Woran man seine Ehrlichkeit erkennt? "An allen anderen Politikern", sagt der Mann. "Wäre es zur Landtagswahl noch mal die CDU geworden, wär ich ausgewandert nach Australien", giftet eine Mutter.

Auch ein grüner Ministerpräsident fährt S-Klasse

Ernsthaftigkeit. Das sei die zweite Variable, die einen Politiker beliebt mache, sagt Politiksoziologe Friedbert Rüb. Ernsthaftigkeit schaffe Vertrauen. Gerade heute, wo die Welt so kompliziert sei. "Kretschmann ist ziemlich raffiniert", sagt Bernd Riexinger in Berlin, gebürtiger Leonberger, heute Bundeschef der Linken und, wenn man so will, Kretschmanns authentischster Gegenpart. "Er durchschaut schnell, was ankommt bei den Leuten", sagt Riexinger. "Das Landesvater-Image hat er drauf. Und er schwätzt so langsam, dass ihn alle verstehen. Das kommt gut an."

Kurz nach halb acht, Bürgerempfang in Wendlingen. Der Saal ist voll. Mitte links sitzt ein Mann um die 70 und ist der Meinung, dass die FDP ohne Fukushima ganz passabel dagestanden wäre zur Landtagswahl. Er hat 2011 nicht grün gewählt, aber immerhin habe sich mit Kretschmann nichts verschlechtert. "Er hat gemerkt, dass er die Prinzipien der Ultra-Grünen hier nicht durchsetzen kann. Und er fährt Daimler. Das würde sonst kein Grüner tun." Seine Gattin schwärmt: "Er ist auch von der Menschlichkeit ganz anders als seine Vorgänger. Also, Mappus war überhaupt nicht menschlich."

"Gute Politik", sagt Friedbert Rüb von der Berliner HU, "zeichnet sich dadurch aus, dass ein Ministerpräsident auch diejenigen vertritt, die ihn nicht gewählt haben." 

Alles nur Mache, sagt Bernd Riexinger. "Kretschmann verfährt nach dem Prinzip: Was juckt mich Berlin? Mag die Partei auch manche Verrücktheiten haben, ich bin der Vernünftige. Also macht Kretschmann seine eigene Politik." Siehe jüngst den Asylkompromiss, der ihn eine Menge Sympathien aus dem eigenen Lager kostete. Das könne dem linken Pendant zu Kretschmann, Bodo Ramelow in Thüringen, dem ersten linken Ministerpräsidenten Deutschlands, nicht passieren. Die "Zuerst kommt das Land und dann die Partei"-Attitüde funktioniere nur in Baden-Württemberg. Den "Kretschmann-Effekt" nennt Riexinger das: erst gegen die Autoindustrie wettern ("Weniger Autos sind natürlich besser als mehr") und dann gut Freund werden mit der CO2 -Elite. "Steile Lernkurve" nennt es Kretschmann.

Soziologe Rüb sagt: "Als guter Politiker kann man nicht einfach programmatisch gegen Konzerne vorgehen. Das wäre fatal." Die Kunst sei es, in schwierigen Situationen plausibel zu handeln und nicht nur im Sinne einer Partei. Siehe, sagt auch er, den Asylkompromiss.

Andreas Bisinger, der Vorstand von DITF, sagt, Kretschmann sei kein Ideologe. Mit ihm, glaubt er, könne man mehr grüne Inhalte umsetzen als mit dem ein oder anderen Hardliner aus der grünen Partei. 

Kretschmann kann auch Türklinken reparieren

Genau das hat Kretschmann bei den Unternehmern in Baden-Württemberg beliebt gemacht. "Die mögen zwar die Landesregierung nicht", sagt Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der IHK Baden-Württemberg, eine traditionell tiefschwarze Vereinigung und noch nie im Verdacht gewesen, grün angehaucht zu sein. Nicht den radelnden Verkehrsminister Hermann, nicht den Umweltminister Untersteller. Aber vor Winfried Kretschmann hätten sie mittlerweile größten Respekt und Achtung, weil er sich "wohltuend von seiner Partei unterscheidet".

"Kretschmann sagt, was er denkt, und wenn er Gegenwind bekommt, hält er das aus. Es gibt nicht viele Politiker, die diese Nachhaltigkeit haben." Das mache ihn verlässlich. Kretschmann könnte jederzeit in der CDU sein, sagt Richter. Er habe "staatsmännisches Format". Der Ministerpräsident, der Handwerker, der fast alles kann, ist auch im politischen Leben vielseitig. Er kann fast mit allen.

Die dritte Komponente in Sachen Politiker-Beliebtheit sei die Konsistenz, erklärt Soziologe Rüb. "Ein Politiker wird beliebt, wenn er glaubwürdig ist. Und Glaubwürdigkeit geht mit einem robusten Wertegerüst einher." Bei Kretschmann bilden das Hannah Arendt und Gott.

Die Philosophie, die älteste Säule der Menschheit, und die Bibel, zu wichtigen Teilen in Stein gemeißelt. Beides erhaben über jedwede Neuauflage. Kretschmanns Wertegerüst ist betonhart. Angefüllt mit einer halb verruchten linksradikalen Studentenzeit, Berufsverbot und kuriosen Monaten auf einer Kosmetikerinnen-Schule. Die noch übrigen Lücken stopft er mit einer Menge historischem Wissen. Dem Konservativen einen intellektuell-humanistischen Anstrich verpassen, findet Bernd Riexinger. 

Ob in Baden-Württemberg nicht zu viel Bürokratie herrsche, fragt einer in der Wendlinger Bürgerfragerunde zwischen Käsewürfeln und Schmalzschnitten. "Na ja, ich gebe zu, Bürokratie ist ein Übel", sagt Kretschmann. "Aber ich habe da noch was Tröstliches: Der erste reiche Staat in der Bibel ist Ägypten. Die hatten auch Bürokratie. Also hängen Bürokratie und Reichtum irgendwie zusammen." Da ist der Bürger still, der gefragt hat. Einem, der die Gegenwart in der Vergangenheit einzuordnen vermag, dem traut man auch zu, die Zukunft weiterzuschreiben. Einem, der noch dazu fast alles Lebenswichtige selber machen kann, sowieso.

"Ich bin der Meinung, dass es nicht schadet, wenn einer, der ein Land führen möchte, auch seine eigene Türklinke reparieren kann", sagt der Ministerpräsident in seinem Büro auf der schwarzen Ledercouch. Dann erklärt er: "Das Herstellen ist eine urmenschliche Tätigkeit. Am Ende hat man etwas geschaffen, was funktioniert, was Qualität hat. Das ist unglaublich befriedigend." Eine Tätigkeit, die durch Höhen und Tiefen führe. Und auch im Leben und in der Politik seien freudvolle Ergebnisse nur selten ohne große Mühe zu erreichen. Laut Hannah Arendt, sagt Kretschmann, überdauern die selbst hergestellten Dinge den Menschen, der sie gemacht hat. Sie bleiben, erhalten ein Stück des Bastlers für die nachkommende Generation.

Nach dem "Ich kann alles außer Schweißen"-Interview haben ihm seine Mitarbeiter einen Schweißkurs geschenkt. Kretschmann hat ein W geschweißt. Vier Geraden, drei Schweißnähte, ein praktischer Buchstabe. Er steht für Winfried.


Winfried Ketschmann und Kontext-Redakteurin Anna Hunger. Dielen schleifen, Wände streichen und Garten umgraben kann sie auch. Aber ein A hat sie noch nie geschweißt.


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25 Kommentare verfügbar

  • Tillupp
    am 22.06.2015
    Antworten
    @Karl Friedrich+Rommel, 21.06.2015 14:27
    Also über Alexander Bonde (Grüne, Minister für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz) habe ich hier schon was kritisches geschrieben gesehen, obwohl ich nicht glaube dass er erst in der grünen Regierung dick wurde. Einfach weiterhin Kontext (und die…
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