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Hoch geflogen, hart gelandet

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In Trippelschritten geht es voran für das geplante Sonderkontingent für bis zu 1000 traumatisierte Frauen und Mädchen aus Syrien und dem Nordirak. Der Kontext-Bericht dazu hat beim Ministerpräsidenten für hohe Erregung gesorgt. Doch das größte Problem ist die Situation vor Ort.

Das Staatsministerium ringt weiter um die Umsetzung des Sonderkontingents für bis zu 1000 traumatisierte Frauen aus Syrien und dem Nordirak. Das Bundesinnenministerium hat die Aufnahmeanordnung und damit das schriftliche Konzept weitgehend abgesegnet, der Kontakt zu den Flüchtlingsorganisationen vor Ort scheint geknüpft, die ersten 150 Flüchtlinge benannt. Wann die ersten Betroffenen kommen sollen, ist jedoch weiter unklar.

Nun knirscht es auch noch gehörig in der Koalition. Über Kritik aus den Reihen der SPD an der mangelnden Vorbereitung echauffieren sich die Grünen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann tobte öffentlich ob des Vorwurfs, er habe das Kontingent aus strategischen Gründen angekündigt, um nach dem Asylkompromiss im September sein angekratztes Image gerade gegenüber der Parteilinken aufzupolieren.

Allerdings gibt auch der Staatssekretär im Staatsministerium zu, dass es im Vorfeld keine inhaltliche Abstimmung mit den SPD-geführten Fachministerien gegeben hat. "Natürlich nicht", sagt Klaus-Peter Murawski. Dafür sei keine Zeit gewesen. Immerhin habe der Zentralrat der Jesiden Kretschmann erst im September auf die dramatische Situation der Glaubensgruppe im Nordirak aufmerksam gemacht. Beim Flüchtlingsgipfel im Oktober habe man die Möglichkeit nutzen wollen, in den "Vorschlag" für das Sonderkontingent unter anderem die Opposition einzubinden - und um wohl auch den Koalitionspartner in die Pflicht zu nehmen. Murawski hält das Vorgehen heute noch für richtig. "Die Probleme hätten wir in jedem Fall gehabt. Und sonst wäre ich noch nicht so weit, wie ich heute bin."

Doch wie weit ist das Staatsministerium mittlerweile gekommen? Eines der größten Probleme ist demnach die Visa-Vergabe vor Ort. Das zuständige deutsche Konsulat im nordirakischen Arbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, ist bereits völlig überlastet wegen der Sonderkontingente des Bundes und der Länder für syrische Flüchtlinge. Murawski sagt, dass nach Angaben des Auswärtigen Amtes dort aktuell nur vier Visa pro Woche ausgestellt werden können. Nun sollen Flüchtlingsorganisationen vor Ort die Visa-Anträge so vorbereiten, dass das Konsulat nur noch seine Zustimmung geben muss - und dadurch mehr Frauen das Land verlassen können. Ziel sei, in regelmäßigen Abständen Gruppen von zehn bis 20 Frauen nach Deutschland auszufliegen, sagt Murawski.

Eine Schwierigkeit bei den Visa-Anträgen ist, dass manche Menschen keine Papiere haben, die ihre Identität bestätigen. So müssen als Ersatz pro Person zwei Zeugen gefunden werden. Bei Kindern muss geklärt sein, dass beide Elternteile einverstanden sind, wenn beispielsweise Mutter und Tochter nach Deutschland reisen. Das Bundesinnenministerium weist darauf hin, dass eventuell die Zustimmung eines Stammesführers für eine Ausreise einer Frau nötig sein könnte.

Das Staatsministerium hatte verkündet, dass die Frauen und Mädchen möglicherweise erst nach ihrer Einreise nach Deutschland Visa bekommen könnten. Diese Idee lehnt das Bundesinnenministerium allerdings als "weder notwendig noch angemessen" ab, wie ein Sprecher sagt. Stattdessen empfiehlt es den Einsatz von baden-württembergischen Beamten im Nordirak. Diese könnten mit mobilen Geräten die Flüchtlingsfrauen an ihrem Aufenthaltsort erfassen. Sollte der Plan mit den Flüchtlingsorganisationen doch nicht klappen, sieht Murawski auch in dieser Idee kein Problem. Es hätten sich bereits Beamte der Landesregierung freiwillig für einen solchen Einsatz gemeldet. Allerdings hatte das Staatsministerium eine für Dezember geplante Delegationsreise in den Nordirak mit Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) aus Sicherheitsgründen abgesagt. Murawski betont, dass bei einem freiwilligen Einsatz weniger Sicherheitsvorkehrungen vorgeschrieben seien.

150 Frauen und Mädchen sind schon identifiziert

Zusätzlich zur Visa-Vergabe muss die Landesregierung sicherstellen, dass nur besonders schutzbedürftige Menschen und ihre Familien über das Kontingent einreisen. Das Bundesinnenministerium besteht darauf, dass drei Ärzte unabhängig voneinander jede betroffene Frau begutachten. Dies sollen nach Angaben von Murawski ebenfalls die Flüchtlingsorganisationen übernehmen. Aktuell seien bereits 150 Frauen und Mädchen identifiziert. 500 weitere stünden auf einer Liste, die der Traumatologe und Orientalist Jan Ilhan Kizilhan zusammengestellt hat. Kizilhan ist Professor für Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen und berät die Landesregierung unter anderem bei diesem Projekt. Der Jeside war selbst zuletzt im Sommer im Nordirak.

Um die Frauen aufnehmen zu können, muss das Bundesinnenministerium eine entsprechende Aufnahmeanordnung Baden-Württembergs absegnen. Bis auf Kleinigkeiten hätten sich die Behörden hier bereits geeinigt, heißt es aus dem Bundesinnenministerium. Aus einem Entwurf der Anordnung vom 18. Dezember geht hervor, dass das Staatsministerium mittlerweile nicht nur Frauen, sondern auch enge Familienangehörige und "in begründeten Einzelfällen" weitere Verwandte aufnehmen möchte. Diese sollen Teil des Gesamtkontingents von bis zu 1000 "Betroffenen" in der Region Kurdistan sein. Die Menschen erhalten zunächst eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre, die gegebenenfalls verlängert werden kann. Außerdem dürfen die Flüchtlinge arbeiten. Ausgenommen von der Regelung sind Menschen, die "vorsätzliche Straftaten" begangen haben, ebenso wie Personen, die in Verbindung zu "kriminellen Organisationen oder terroristischen Vereinigungen" stehen. Anträge für das Kontingent können bis zum 31. Dezember 2015 eingereicht werden.

Dass sich die Einreise der Frauen nun deutlich verzögert, verschafft der Landesregierung auch die Zeit, in Baden-Württemberg die Aufnahme zu organisieren. Stuttgart, Schwäbisch Gmünd und Freiburg haben sich bereit erklärt, Frauen aufzunehmen. Allerdings ist in Stuttgart und Freiburg noch völlig unklar, wo diese unterkommen sollen. Die Landesregierung will die traumatisierten Menschen möglichst nicht in Flüchtlingswohnheimen unterbringen. Man führe Gespräche mit verschiedenen Einrichtungen, heißt es in Freiburg. "Wir stehen bereit", sagt ein Sprecher der Stadt Stuttgart. Allerdings sei der Umfang noch unklar, der überlastete Wohnungsmarkt ein Problem. Das Staatsministerium habe angekündigt, im ersten Quartal 2015 Gespräche mit der Stadt führen zu wollen.

Schwäbisch Gmünd ist da schon einen Schritt weiter. "Wir können jetzt, gleich, sofort 20 Frauen aufnehmen", sagt Oberbürgermeister Richard Arnold (CDU). Das örtliche Franziskanerinnenkloster könne die Frauen in einem Haus unterbringen. Auch die Franz-von-Assisi-Gesellschaft mit ihren Jugendhilfeeinrichtungen könne sich vorstellen, Frauen aufzunehmen. Die Gesellschaft könne sich zudem mit Fachleuten um die therapeutische Betreuung der Frauen kümmern. Der Landkreis suche aktuell bereits weitere Unterkünfte.

Die Frauen sollen ambulant und stationär betreut werden

Zusätzlich zur Unterkunft muss die therapeutische Betreuung aller Frauen organisiert werden. Murawski hält sowohl die stationäre wie auch die ambulante Versorgung der Frauen für "ein absolut bewältigbares Problem". Die Universitätskliniken hätten bereits in einem Online-Netzwerk die Angebote für Traumabehandlungen im Land zusammengeführt. Darin enthalten seien auch alle psychiatrischen Landeskrankenhäuser. Die Flüchtlingsorganisationen gingen davon aus, dass die meisten Frauen ambulant betreut werden könnten. Laut einer Kabinettsvorlage sollen auch die landesweit fünf Psychosozialen Zentren in die Betreuung eingebunden werden. Diese hatten allerdings in den vergangenen Monaten über massive Überlastung geklagt - und auf Wartezeiten von bis zu neun Monaten hingewiesen.

Um Probleme zwischen Ärzten und Pflegern sowie den Frauen zu vermeiden, soll Orientalist Kizilhan die Beschäftigten zudem für den kulturellen Hintergrund der Jesiden sensibilisieren, sagt Murawski. Die Glaubensgemeinschaft lebt nach ihren eigenen Regeln. Die Heirat mit einem Andersgläubigen hat beispielsweise den Ausschluss zur Folge. Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit vor allem im Nordirak, die an einen Gott glaubt und deren Glaube nur mündlich überliefert wird. Die Menschen werden von den Terroristen des Islamischen Staates (IS) als "Ungläubige" verfolgt. Frauen und Mädchen würden vergewaltigt und als Sklavinnen gehalten, erzählt Kizilhan. Murawski betont allerdings, dass das Sonderkontingent sich nicht nur an Jesiden richtet. Es gehe grundsätzlich um traumatisierte Frauen in Syrien und dem Irak. Dies könnten etwa auch Muslima sein.

Die Höhe der Kosten für das Sonderkontingent ist nach wie vor offen. Allerdings herrscht zumindest in diesem Punkt Einigkeit mit dem Koalitionspartner: Murawski verweist auf extra zurückgelegte 300 Millionen Euro in den kommenden beiden Jahren für die Unterbringung der Flüchtlinge sowie insgesamt 130 Millionen Euro zusätzlich vom Bund. "Wir haben im Landeshaushalt Vorsorge für steigende Flüchtlingszahlen geleistet und sind dafür gut gerüstet", heißt es dazu aus dem Finanzministerium.

Die Hals-über-Kopf-Strategie des Staatsministeriums bei diesem sensiblen Projekt bleibt kein Ruhmesblatt. Dazu der unsouveräne Umgang des Ministeriums samt Regierungschef mit der Kritik an der Vorgehensweise - befremdlich. Aber entscheidend ist: Endlich kommt Bewegung in die Sache.


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12 Kommentare verfügbar

  • Ralf Kiefer
    am 31.12.2014
    Antworten
    @Cathrin R.

    Ich hatte glücklicherweise noch keinen Bedarf an genau solch einer Therapie. Aber ich habe mich mit psychischen Problemen bei einem nahen Freund auseinandersetzen müssen. Insofern sehe ich mich als nicht komplett ahnungslos. Aber, was die hier angesprochenen Menschen angeht, meine ich…
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