Schon zur Jahreswende hat sich der Gemeinderat in der Landeshauptstadt entschieden, 21 Millionen Euro in neue kleine Flüchtlingssiedlungen aus Systembauten zu stecken. Dort, wo vor 20 Jahren in orange lackierten, gestapelten Containern 160 Menschen untergebracht waren, wo, wie sich der Vorsitzende des TV Plieningen Folker Baur erinnert, Kinder mit Ratten spielten, wurden am Dienstag zwei neue Häuserzeilen eröffnet. Noch baggern die Bagger; den gemeinsam anzulegenden Garten symbolisiert ein grüner Teppich; die Idee, eine Radwerkstatt zu eröffnen, wartet auf Realisierung. Und doch haben die ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen erste Großtaten bereits vollbracht: Die NDP-Plakate, die am Bauzaun hingen, bevor die Arbeiten überhaupt begannen, wurden entfernt und ein Nachbar zur Rücknahme seiner Klage bewogen.
Es gibt schon Widerstände in der Umgebung, erzählt die Bezirksvorsteherin. Es gibt aber auch mehr als hundert ehrenamtliche Unterstützer und einen einstimmigen Beschluss im Bezirksbeirat zugunsten der Siedlung. 2088 Flüchtlinge leben aktuell in der Landeshauptstadt. Weitere werden folgen. Eine Familie, die "Im Wolfer" eingezogen ist, kommt aus Syrien, war fast ein Jahr unterwegs durch Lager und Zeltstädte, einer anderen hat die Jahrhundertflut in Serbien Hab und Gut genommen. Zwei Jungs springen ausgelassen auf einer Treppe herum. Auch ihre Ferien werden Mitte September zu Ende sein. "Flüchtlingskinder sind Stuttgarter Kinder", sagt der neue Leiter des Sozialamts, Stefan Spatz. Alle unter sechs Jahren kommen in nahen Kindertagesstätten unter.
Insgesamt 1000 neue Wohnplätze wird die Stadt schaffen. Ausdrücklich nicht als Dauerlösung. Ziel ist, geduldete Einwanderer oder Asylbewerber mit positivem Bescheid in kleineren Einheiten, am besten in Wohnungen, unterzubringen. Außerdem wünscht sich Spatz neue Regeln für die Chance zu arbeiten. Auf dem Papier fällt das Verbot zwar nach drei Monaten, in der Realität hat der potenzielle Arbeitgeber aber nachzuweisen, dass kein Deutscher und kein EU-Bürger für den Job in Frage kommt. Vor allem alleinstehende junge Männer brauchen eine Alternative zum öden Alltag im engen Drei-Bett-Zimmer mit Tisch und Kühlschrank.
Nach den neuesten Zahlen werden 2014 mehr als 26.000 Flüchtlinge in Baden-Württemberg einreisen. Viele davon Syrier, viele sind Serben. In Plieningen wohnen seit Montag auch drei Nigerianer, ein Ägypter, ein Georgier und ein Iraker. "Ich freue mich auf unsere Arbeit", sagt Elise Schwegler, eine der beiden hauptamtlichen Sozialarbeiterinnen mit Sprachkompetenz. Von Kisuaheli bis Spanisch reicht die Palette, und die Betreuer im Ehrenamt helfen weitere Hürden gerne hinweg.
Die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung wissen um den Modellcharakter des Projekts: Ein Lenkungskreis ist gegründet, alle Beteiligten sitzen an einem Tisch, die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft war für die Systembauweise zuständig. "Da geht es nicht um ein anderes Wort für Container", sagt Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne), "sondern um Gebäude, die allen Lärm- oder Wärmeschutzanforderungen entsprechen." Schon gibt es Anfragen anderer Kommunen im Land. Die nächsten Siedlungen in Zuffenhausen oder in Möhringen sind im Bau. Der Oberbürgermeister zitiert Hölderlin: "Glückliches Stuttgart, nimm freundlich den Fremdling mir auf."
Eine neue Chance. Denn das Boot, das noch nie voll war, hat viele Plätze. Und viele Flüchtlingsfreundeskreise können heute auf eine jahrzehntelange Erfahrung zurückblicken, wie jener aus Sillenbuch, der seit 1986 besteht. Alle gemeinsam setzen auf den "Stuttgarter Weg", auf die Stadtgesellschaft vor Ort, darauf, dass "wir freundlich und gut mit fremden Menschen in Not umgehen" (Kuhn).
Die Stadt ist stolz auf ihre liberale Tradition. Obwohl auch hier ein dunkles Kapitel deutscher Zuwanderungsgeschichte geschrieben wurde. Vor Mölln und Hoyerswerda, wurde in Stuttgart - keine vier Kilometer Luftlinie von Plieningen entfernt - ein Mann getötet, nur weil er Ausländer war: Sechs junge Männer erschlugen im Juli 1992 den ihnen völlig unbekannten Sadri Berisha mit Baseball-Schlägern und einem Metallrohr. Zuvor hatten sie getrunken und Hitler-Reden gehört.
Der Kosovo-Albaner hatte ebenfalls in einem einfachen Wohnheim gewohnt, allerdings nicht für Flüchtlinge, sondern für Arbeiter. 21 Jahre war er in Ostfildern-Kemnat auf dem Bau beschäftigt, bald wollte er zurück in die Heimat zu seiner Frau und seiner Familie. Seine Kollege Sahit Elazaj überlebte. Dessen Anwalt Rezzo Schlauch formuliert im Gerichtssaal eine Botschaft ohne Verfallsdatum: "Auf die Anklagebank gehören auch andere Gruppen und Kräfte, die in unverantwortlicher Weise das Asylproblem in der Öffentlichkeit diskutierten, so dass sie den Angeklagten das Gefühl gaben, was sie taten, sei nicht Unrecht."
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Respekt dafür
am 28.08.2014A propos: Wird diese BM-Wahl von Kontext verfolgt - recherchiert - kommentiert begleitet? Esslingen hat doch eine bestimmte Bedeutung als Neckar-Stadt.…