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Kretschmanns Kuhhandel

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Da macht ein Politiker, was er für richtig hält. Im Alleingang und ausdrücklich gegen die Beschlusslage der Partei. Winfrieds Kretschmanns Zustimmung zum Flüchtlingskompromiss mit der Großen Koalition sorgt bundesweit anhaltend für Aufregung. Er selber ist mit sich im Reinen, "weil es um Menschen geht und nicht um Prinzipien". Solche Sätze bringen seine Kritiker erst recht auf die Palme.

Per Pressemitteilung reagierte die Grüne Jugend Baden-Württemberg schnell und scharf: Die Entscheidung bedeute "eine negative Zäsur in der Flüchtlingspolitik der Partei", wichtige Eckpfeiler seien "ohne Not für ein fadenscheiniges Ergebnis aufgegeben worden". Und weiter: "Regieren hier eigentlich die CDU-Landräte oder der erste grüne Ministerpräsident?" Als am vergangenen Freitag der Landesvorstand der Partei in Stuttgart tagte und neun Vertreter des Nachwuchses vor der Tür standen, gab Kretschmann die Antwort und wurde grundsätzlich: Natürlich regiere er, aber "doch nicht im luftleeren Raum".

Das Thema ist heikel, der Ministerpräsident steht unter Druck von vielen Seiten, ausverhandelt mit der Bundesregierung sind allein drei Punkte. Das beirrt ihn nicht. Sein Naturell kommt ihm in der direkten Auseinandersetzung zugute, er erinnert an Luthers Auftritt in Worms: "Hier stehe ich und kann nicht anders." Nach der Landesvorstandsitzung loben auch Mitglieder, die seine Sicht nicht teilen, Kretschmanns Rede. Beschlossen wird eine Resolution, die das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ablehnt, das Ja aber akzeptiert.

Selbst den Youngstern imponiert sein Engagement – "irgendwie", sagt einer schulterzuckend. Gut zehn Minuten nimmt sich der Gründungsgrüne Zeit, ihre Vorwürfe zu parieren. "Menschenrechte sind nicht verhandelbar", steht auf einem Pappkarton, das "nicht" ist Rot unterstreichen. "Stimmt", erwidert er, "aber darum ging's doch gar nicht." Als eine junge Frau nachfragt, erhöht Kretschmann, was er so oft tut in solchen Situationen, die Phonzahl: "Es geht um den fragilen gesellschaftlichen Konsens."

Die Materie ist diffizil und für Schnellschüsse schlecht geeignet. Mehr als 100 000 Menschen haben laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis Ende August ihren Asylerstantrag in Deutschland gestellt. Die meisten aus Syrien, noch mehr aber kommen aus jenen Staaten, die neuerdings unter dem Begriff Westbalkan zusammengefasst sind: Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina. Viele von ihnen sind Roma, sie leben in Slums, in Baracken an der Müllhalde, die Familien sind geächtet, die Kinder vom Schulbesuch ausgeschlossen, die zuständigen Behörden und Regierungen kümmern sich nicht um sie.

Die drei Länder wollen zwar in die EU, rufen aber nicht einmal von Brüssel zweckgebunden bereitgestellte Projektmittel ab. Seit die Visapflicht gefallen ist, suchen immer mehr Menschen ihr Heil in der Flucht. Eigentlich könnte die Bundesrepublik sie alle schon an der Grenze zurückschicken, weil sie durch einen sicheren Drittstaat einreisen – aber es gibt bekanntlich keine Kontrollen und Schlagbäume mehr. Slowenien, Italien und Österreich sind deutlich weniger attraktiv, in Ungarn werden Sinti und Roma noch schlechter behandelt als in jenen Regionen, die sie verlassen. Also Deutschland, ohne jede Chance auf Anerkennung.

Mit der Gesetzesänderung einher geht eine Umkehr der Beweislast: Der Staat geht davon aus, dass die Herkunftsstaaten sicher sind, die Asylbewerber müssen diese Annahme plausibel widerlegen und belegen, dass sie politisch verfolgt werden. Kretschmann selber räumte im Bundesrat Diskriminierung, Verfolgung und Drangsalierung ein. Aber am schweren Schicksal der Roma könne das Asylrecht nichts ändern: "Das ist das falsche Instrument." Und er gab einen Einblick in sein Verständnis von Regierungsverantwortung: "Ich halte die Sichere-Herkunftsstaaten-Regelung für falsch, aber sie hat Verfassungsrang." Die Parallelen zu Stuttgart 21 liegen auf der Hand. Einer Volksabstimmung, selbst wenn sie unzulänglich war, ist die eigene Haltung unterzuordnen. "Ich bin kein Ideologe", hat er den jungen Parteifreunden auf der Straße gesagt, "sondern Ministerpräsident."

Der 66-Jährige ist Zeitzeuge, die unappetitliche Asyldebatte Anfang der 90er-Jahre ist ihm lebhaft in Erinnerung. Losgetreten in Bayern, immer wieder mitbefeuert von der Südwest-CDU. Die regierte Ende der Achtziger noch allein im Land, argumentierte mit statistischen Halbwahrheiten – pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, hat Deutschland noch nie die meisten Flüchtlinge aufgenommen und tut es auch heute nicht –, Missbrauchsparolen wurden salonfähig, unterstützt von der Springer-Presse und anderen Verlagen, aber auch von großen Geistern.

Golo Mann forderte, die Grenzen dichtzumachen und für die Zwangsrückreise Pakete auszugeben. Kemnat, Mölln und Solingen wurden Synonyme für Ausländermorde, Mannheim oder Hoyerswerda für die tagelage Belagerung von Asylbewerberwohnheimen. Die Scharfmacher von den Republikanern sind der CDU immer mindestens einen Schritt voraus ("Das Boot ist voll", "Schluss mit dem Asylbetrug", "Deutschland zuerst") und sitzen am Ende, gewählt von 539 000 Baden-Württembergern und Baden-Württembergerinnen oder knapp elf Prozent, rechts außen im Landtag. Acht lange Jahre.

"Wir müssen allen Demagogen das Werkzeug aus der Hand schlagen", appelliert der Ministerpräsident an die Parteijugend. Eine Formulierung, die viel verrät. Denn landauf, landab nimmt er mit aus seinen Gesprächen, dass Demagogen das Werkzeug bereits in der Hand halten.

Allerdings ist Kretschmanns Kompromiss, endgültig festgezurrt am vergangenen Donnerstag im Telefonat mit der Kanzlerin, ein ungedeckter Wechsel. Denn niemand weiß, ob die Union tatsächlich am gesellschaftlichen Konsens interessiert ist. In Meßstetten wurde die Zusammenarbeit zur Umwidmung einer Kaserne in eine Unterkunft für tausend Neuankömmlinge engagiert vom CDU-Landrat Günther-Martin Pauli befördert. Der sitzt auch in der Landtagsfraktion, seine Position dort lässt wenig Gutes hoffen. Pauli gilt vielen in seiner Partei als zu liberal und unangepasst.

Nicht einmal alle Genossen sind solidarisch, wie der Auftritt des Kieler Regierungschefs Torsten Albig im Bundesrat zeigte. "Der hat die Rede gehalten, die viele von uns von Winfried erwartet haben", sagt ein grüner Landtagsabgeordneter. "Wir bleiben die Anwältinnen und Anwälte der Flüchtlinge", heißt es in der Resolution des Grünen-Landesvorstands tapfer.

Nach der reinen Lehre hätte dazu die Gesetzesänderung im Bundesrat scheitern müssen. "Das ist mit mir nicht zu machen", wird Kretschmann von einem Teilnehmer am "grünen Kamin" zitiert. In dieser Runde treffen sich Vertreter und Vertreterinnen aus den Ländern, die von den Grünen mitregiert werden, die Bundesvorsitzenden und die Fraktionsspitze regelmäßig vor der Bundesratssitzung. Schon im Juli hatte der Baden-Württemberger parteiintern durchblicken lassen, dass er – wenn die Große Koalition bei Residenzpflicht und Arbeitsverbot nachgibt – der Gesetzänderung zu Ungunsten von Flüchtlingen aus Serbien, Bosnien und Mazedonien zustimmen will.

Philisterhaft ist die Aufregung der Spitzen-Grünen, haben sie ihm doch vor der Sommerpause ausdrücklich einen Auftrag erteilt, gemeinsam mit Hessen, NRW und Rheinland-Pfalz für die Grünen zu verhandeln – in Kenntnis seiner Tendenz zur Zustimmung. Parteichef Cem Özdemir dreht inzwischen bei: Inhaltliche Kritik ja, aber es müsse deutlich werden, dass alle "für die gemeinsame Sache einstehen".

Letzteres wird Kretschmann sicherlich noch lange abgesprochen. Trotz weiterer in Aussicht gestellter Verbesserungen, die im Zuge der Bund-Länder-Finanzverhandlungen durchgesetzt werden sollen. Alle Asylbewerber könnten dann, wie die Aufhebung der Residenzpflicht eine Uraltforderung der Grünen, über die gesetzlichen Krankenkassen versichert werden – finanziert vom Bund, damit die Kassen nicht mit einer versicherungsfremden Leistung belastet werden. Die Koalition hierzulande will liefern – im Rahmen der eigenen Möglichkeiten – in Sachen Lebensumstände auf den Westbalkan.

Der zuständige SPD-Minister Peter Friedrich plant eine Roma-Konferenz, in Albanien läuft ein Projekt, das auf andere Länder übertragen werden könnte. In Bälde trifft Kretschmann den neuen EU-Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker. Ganz oben auf der Themenliste steht die Lage der Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan, aber auch in Rumänien, Bulgarien, und Ungarn, alle drei bekanntlich Mitglieder der Europäischen Union.

Zugleich tobt im Internet der Protest. Ska Keller, die Europaabgeordnete aus Brandenburg, hat gemeinsam mit zwei Berliner Grünen einen Aufruf gegen das "Konstrukt der sicheren Herkunftsländer" gestartet, den inzwischen fast 2500 Menschen unterstützen. Sie unterstreicht zwar einerseits die Bedeutung der erreichten Verbesserungen, spricht aber zugleich vom "Kuhhandel". Rasmus Andresen, Landtagsabgeordneter aus Schleswig-Holstein und damit jenem Landesverband, der von Anfang an alle Gespräche über die Verbesserung der Lebensumstände abgelehnt hat, twittert: "Der Asylkompromiss ist ein Witz." Andere ärgern sich über den "Solo-Trip" und fordern, "Spitzen-Grüne an die kurze Leine zu nehmen", einer verlangt, natürlich anonym, den Rücktritt des "Moses aus Laiz". Claudia Roth, die Bundestags-Vizepräsidentin, sieht die Glaubwürdigkeit der ganzen Partei aufs Spiel gesetzt.

Kretschmann kontert in seinen Rechtfertigungs-Interviews mit dem Hinweis auf die Versäumnisse der rot-grünen Bundesregierung. Damals konnte sich der kleinere Koalitionspartner nicht durchsetzen mit seiner Forderung, das gesamte System in Europa auf den Prüfstand zu stellen, das Deutschland in die vergleichsweise komfortable Lage brachte, nur von sicheren Drittstaaten umgeben zu sein. Diese Lage identifiziert Roth heute noch als Hauptgrund dafür, dass "Einrichtungen geschlossen und Menschen, die in dem Bereich gearbeitet haben, entlassen wurden". Man habe gedacht, aus dem Schneider zu sein. Und sie verlangt, dringend mehr Syrier aufzunehmen angesichts der "humanitären Tragödie von nie da gewesenem Ausmaß".

Vergangene Woche in Berlin auf ihrer Klausur hat sich die grüne Landtagsfraktion mit Aramäern und Jesiden getroffen. Ein Mann hatte ein Fotoalbum dabei, das er Kretschmann überreichte. Der schlug es auf – und sofort wieder zu. Der Augenblick dazwischen brannte sich ein. Das Bild zeigte fünf abgeschlagene, öffentlich zur Schau gestellte Köpfe. Ein grüner Ministerpräsident dürfe "Flüchtlingsgruppen nicht gegeneinander aufrechnen", verlangt die Parteijugend. "Sie sind doch in erster Linie Grüner, oder?", insistiert eines der Mädchen. Kretschmann wirft die Arme in die Luft, verzichtet diesmal auf eine Antwort. Das Ja im Bundesrat ist Antwort genug.


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23 Kommentare verfügbar

  • Aber Jupp, wir haben doch die Nazis
    am 27.09.2014
    Antworten
    akzeptiert, ja bejubelt. Leider haben wir dann verloren. Sonst wären wir geistig reif geblieben. Hepp? Grandioses Verständnis, Lemming lässt grüßen - wir wissen nicht wohin und was, aber Hauptsache schnell, schneller am schnellstens. Und am Unwidersprochensten. Das ist der heutige Kleingeist. Fast…
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