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Mitleid und Furcht

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Derzeit kommen so viele Flüchtlinge nach Deutschland wie zuletzt Anfang der 1990er-Jahre. Wissenschaftler sprechen von einer zwiespältigen Stimmung in der Bevölkerung. Die Menschen zeigen Mitleid und fürchten doch die Asylbewerber in der Nachbarschaft. Die Forscher warnen: Sollte die starke Wirtschaft einbrechen, könnte es mit der Hilfsbereitschaft schnell vorbei sein.

Wegen der Konflikte in Ländern wie dem Irak, Syrien und Eritrea oder den sozialen Problemen beispielsweise im Kosovo fliehen derzeit Millionen Menschen aus ihrer Heimat. Bis Ende 2014 kommen vermutlich 200 000 Flüchtlinge nach Deutschland. So viele wie zuletzt Anfang der 1990er-Jahre.

Die Länder und Kommunen ächzen unter der Herausforderung, die Menschen menschenwürdig unterzubringen. Doch während vor 20 Jahren Nazis vor Asylbewerberheimen "Ausländer raus" schrien und Molotowcocktails warfen, scheint Deutschland die Flüchtlinge heute – abgesehen von kleineren Protesten – freundlich zu empfangen.

Doch ist die Gesellschaft wirklich so offen? Sind Hetzjagden auf Asylbewerber in Deutschland noch denkbar? Gibt es Auslöser, die die Stimmung zum Kippen bringen könnten?

Der Psychologe Elmar Brähler sieht aktuell bereits "eine explosive Stimmung gegenüber Sinti und Roma, Muslimen sowie Asylbewerbern". Der emeritierte Professor für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie an der Universität Leipzig spricht von "einer Spaltung: Auf der einen Seite wird öffentlich viel Mitgefühl gezeigt, aber wenn es ans Eingemachte geht, sieht es ganz anders aus". Die Situation im Irak und in Syrien schockiert, aber das Asylbewerberheim in der Nachbarschaft will trotzdem keiner haben.

Brähler leitet seit 2002 die Studie "Die stabilisierte Mitte" zu rechtsextremen Tendenzen in Deutschland. Danach lehnten 2014 immerhin 84,7 Prozent der Ostdeutschen und 73,5 Prozent der Westdeutschen die Forderung ab, der Staat solle Asylanträge großzügig prüfen. Vor allem aber waren nicht einmal 50 Prozent aller Befragten der Ansicht, dass Asylbewerber wirklich verfolgt oder bedroht würden.

Von einer zwiespältigen Haltung gegenüber Asylbewerbern spricht auch Dietrich Thränhardt von der Universität Münster. Der Professor für Migrationsforschung sieht allerdings grundsätzlich "eine ziemlich positive Stimmung" in Deutschland. "In den 90er-Jahren war die Stimmung viel aggressiver", sagt Thränhardt. "Die CDU hat die Auseinandersetzung damals ganz aggressiv betrieben."

Die Christdemokraten hatten Mitte der 1980er-Jahre damit begonnen, die massiv gestiegenen Zuwandererzahlen als Wahlkampfthema zu nutzen und gegen den Missbrauch des Asylrechts durch "Wirtschaftsflüchtlinge" zu mobilisieren. Die Kampagne gipfelte in der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl im Jahr 1993 mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD im Deutschen Bundestag. "Da war man noch stolz drauf", sagt Psychologe Brähler über die Politik. "Deckel draufgemacht und Problem gelöst." Im selben Jahr kamen rund 440 000 Flüchtlinge ins Land – ein Spitzenwert. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr stellten fast so viele Menschen in ganz Europa einen Asylantrag.

Die Stimmung in Politik und Gesellschaft nutzten rechtsextremistische Gruppen, die mit zahlreichen Anschlägen auf Asylbewerberheime für bundesweite Schlagzeilen sorgten. So belagerten im August 1992 rechtsextreme Randalierer die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen und steckten ein angrenzendes Wohnheim für Vietnamesen mit <link https: www.youtube.com _blank>Molotowcocktails in Brand. Die Polizei war damals heillos überfordert. Bei rechtsextremistischen Anschlägen in Mölln 1992 und in Solingen 1993 kamen insgesamt acht Türken und türkischstämmige Deutsche ums Leben.

Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl, sagt: "Die Menschen waren in den Unterkünften gefährdet, sie waren auf den Straßen gefährdet." Die Stimmung heute sei kein Vergleich zu damals. Trotzdem warnt Pro Asyl vor einer Verschärfung der Situation. Demnach hat das Bundeskriminalamt 2013 insgesamt 58 Straftaten erfasst, die sich gegen Flüchtlinge richteten. 2012 waren es noch 24. Allein im ersten Halbjahr 2014 wurden nach Angaben von Pro Asyl 34 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt.

Heute, sagt Migrationsforscher Thränhardt, herrsche in der Politik dagegen der "ganz große Konsens, dass man den Leuten helfen muss". Selbst CSU-Chef Horst Seehofer präsentiere sich derzeit als "großer Integrator". Seehofer hatte in den vergangenen Tagen zum Asylgipfel eingeladen, um die Probleme bei der Unterbringung der Asylbewerber in Bayern zu lösen.

Mit ausländerfeindlichen Äußerungen erhält dafür derzeit die Alternative für Deutschland (AfD) Zulauf, zuletzt bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Bei der Einschätzung der Zukunftschancen der Partei gehen die Meinungen der Wissenschaftler allerdings auseinander: Der eine spricht von einer "Papierpartei", die bisher nur Versprechungen gemacht habe, der andere sieht die Möglichkeit einer Etablierung – und die Gefahr, die anderen Parteien nach rechts zu treiben. "Auch andere Parteien fangen an zu zündeln, weil sie keine Wählerstimmen verlieren wollen", sagt der Psychologe Brähler.

Vergangene Woche hat der Bundesrat zugestimmt, dass Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten gelten. Flüchtlinge aus diesen Ländern – häufig Sinti und Roma – können schneller ausgewiesen werden. Die zwiespältige Haltung gegenüber Asylbewerbern zeigt sich für die Freiburger Migrationsforscherin Nausikaa Schirilla auch in dieser Entscheidung: "Die Zuwanderung der Roma wird gegeißelt. Andererseits gibt es viel Verständnis für die Situation syrischer Flüchtlinge." Damit seien zudem genau die Möglichkeiten genutzt worden, die der Bundestag 1993 geschaffen hatte.

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration untersucht regelmäßig mit dem Integrationsklima-Index "das Gefühl, wie wir zusammenleben", wie Christine Langenfeld, Vorsitzende des Rates, es umschreibt. Danach hat sich in ihren Augen seit Anfang der 90er-Jahre viel getan. "Die Politik fängt an, Deutschland als Einwanderungsland zu positionieren. So ein Land wird nicht so schnell die Rede von 'Das Boot ist voll' führen."

Für den Migrationsforscher und Historiker Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück hat sich die Debatte um Asylbewerber ebenfalls stark verändert. "Heute hat sich die Diskussion über den Nutzungsaspekt von Migranten stärker auch auf Asylbewerber ausgedehnt." Es gehe häufig um das Potenzial von Zuwanderern, da Deutschland durch den demografischen Wandel Fachkräfte brauche. Dies zeige sich unter anderem in der Diskussion über die Verkürzungen des Arbeitsverbots.

Diese veränderte Geisteshaltung spiegelt sich auch in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften des Mannheimer Leibniz-Instituts: Demnach sprachen sich 1990 noch fast ein Drittel der Menschen dafür aus, den Zuzug von Asylsuchenden komplett zu unterbinden. 2006 war es fast nur noch jeder Sechste. Dafür war der Zuspruch für eine begrenzte Zuwanderung deutlich gestiegen.

Zahlreiche Wissenschaftler beurteilen somit das Klima in der deutschen Gesellschaft für Flüchtlinge deutlich positiver als Anfang der 1990er-Jahre. Allerdings sind sich auch viele einig: "Die wirtschaftlich starke Situation erhöht die Akzeptanz", wie Langenfeld vom Sachverständigenrat es beschreibt. Während sich Anfang der 1990er-Jahre die Arbeitslosenzahlen innerhalb weniger Jahre auf 4,4 Millionen mehr als verdoppelten, läuft die deutsche Wirtschaft heute stabil. Rund 2,9 Millionen Menschen sind ohne Job.

"Gefährlich könnte es werden, wenn es einen Einbruch in der Wirtschaft gibt", sagt auch Brähler. "Dann werden Sündenböcke gesucht." In diesem Fall könnte die Stimmung gegenüber Asylbewerbern plötzlich kippen. Allerdings könnten auch gleichbleibend hohe oder steigende Flüchtlingszahlen die Situation verschärfen, warnt Oltmer. Vor allem, wenn die Unterbringungssituation nicht gelöst wird und der Wohnungsmarkt weiter unter Druck gerät. Thränhardt sieht zudem die Gefahr für einen Stimmungswechsel im Falle eines islamistischen Anschlags.

Dass die Stimmung nicht kippt, liegt für Langenfeld vom Sachverständigenrat in der Verantwortung der Regierung: "Die Politik muss stärker für die Akzeptanz der Flüchtlinge werben." Sie müsse das Baurecht ändern, um den Kommunen die Unterbringung der Flüchtlinge zu erleichtern, sich auf die Menschen konzentrieren, welche die Hilfe wirklich brauchen, wie die Syrer – und die Gesellschaft darauf vorbereiten, dass vermutlich noch mehr Asylbewerber kommen werden.


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7 Kommentare verfügbar

  • Bangladesh - das Land wo die Zitronen blühen:
    am 27.09.2014
    Antworten
    2% Mehrwertsteuer
    keine Krankenversicherung
    keine Rentenversicherung
    keine Arbeitslosenversicherung
    keine Pflegeversicherung
    => keine Beiträge dazu von AN/AG,
    d.h. Super-Netto.

    Textilarbeiterlöhne ca. EUR 30 pro Monat, die bewirken, dass es keine Haushaltshilfen mehr gibt, die für EUR 4 pro…
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