Zunehmend mehr Flüchtlinge suchen ihre Zuflucht in Deutschland und damit auch in Stuttgart. 1650 Flüchtlinge hielten sich Ende 2013 in der Landeshauptstadt auf, im Jahr 2014 werden weitere 1320 dazukommen. Kurz vor der Weihnachtspause hat der Gemeinderat der Stadt Stuttgart einen Grundsatzbeschluss gefasst, durch den die notwendigen Flüchtlingsunterkünfte durch temporäre Systembauten in verschiedenen Stadtteilen bereitgestellt werden können. Im Vorfeld dieses Grundsatzbeschlusses erreichte die Fraktionen des Gemeinderats die "dringende" Stellungnahme der Kanzlei Zuck, eines bekannten Stuttgarter Anwaltsbüros, das die Interessen von vier grundbesitzenden Familien in der Nähe des möglichen Standorts Hattenbühl vertritt.
Der Hattenbühl ist ein ruhiges und gehobenes Wohngebiet im Grünen am Rande der Stadt, genauer gesagt am Rande des industriell geprägten Stadtbezirks Feuerbach. Die Unterkünfte sollen dort für fünf Jahre auf einer städtischen Fläche aufgestellt werden, die schon für den Gemeinbedarf ausgewiesen ist. Die Unterbringung von 159 Flüchtlingen im Hattenbühl, so argumentiert das 16-seitige Schreiben, verstieße "gegen das Rücksichtsnahmegebot" und sei eine "unzumutbare Beeinträchtigung für die Nachbarschaft". Es entstünde ein "Konfliktpotenzial", weil "dieser Personenkreis psychisch erheblichen belastenden Lebensumständen ausgesetzt" sei: Sie dürften nicht arbeiten, hätten nur "eingeschränkte Bewegungsfreiheit", und weil es in der Sommerhitze in ihren Unterkünften viel zu eng und heiß sei, würden sich die "durch die Lebensumstände aufgebaute Spannungen in lautstarken Konflikten entladen, verbale und lautstarke als auch gewalttätige, körperliche Auseinandersetzungen" im Freien seien "vorprogrammiert". "Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" würde es "fortlaufend zur Begehung von Straftaten" kommen, worauf dann ein Zorn gegen die Obrigkeit entstünde, der wiederum für die "Psyche der dann völlig verängstigten Kinder" verheerend sein würde: "Die Leidtragenden sind also in erster Linie die Anwohner und deren Kinder, die gar nicht für die Situation der Flüchtlinge verantwortlich sind."
Um ihre eigene Ruhe und ihre am Weltgeschehen unschuldigen Kinder machen sich die hauptleidtragenden Anwohner und ihre Anwälte die größten Sorgen. Denn wie sollen sie sich erholen, "wenn direkt nebenan bis zu 159 beschäftigungslose und meist gelangweilte Männer im besten Alter miteinander herumhängen und sich gegenseitig anbrüllen oder rund um die Uhr ausgiebige Familienfeste im Freien gefeiert werden"? Der Nichtjurist mit gesundem Menschenverstand würde vorschlagen: Dann könnte man ja mit ihnen reden und sie bitten, ihre "vorprogrammierten Ruhestörungen" zu beenden oder die vielleicht umzuprogrammieren. Das geht nicht, schreiben die Anwälte, weil eine direkte Kontaktaufnahme "mit erheblichen Risiken verbunden" ist und die "Anwohner dann ganz schnell in der Unterzahl und schon deshalb im Nachteil sind". Und wie wäre es, dann die Polizei zu bemühen? Das geht auch nicht, führt der Schriftsatz aus, weil die Nachbarn dann "früher oder später mit Racheakten, mit Handgreiflichkeiten und anderen körperlichen Auseinandersetzungen" zu rechnen haben.
Die friedlichen Familien am schönen Hattenbühl müssen mit dem Schlimmsten rechnen, für sich, vor allem aber für ihre schutzbedürftigen Kinder, die ja "auf die körperliche Unversehrtheit ihrer Eltern angewiesen" sind. Man stelle sich vor, wie die von den Flüchtlingen auf einem ihrer Rachefeldzüge schwer verletzten Eltern ihren Kindern nicht mehr beistehen können, wie sich die Kinder dann unbegleitet durchs Leben schlagen müssen: Zustände auf dem Hattenbühl wie in Syrien oder auf Lampedusa! Gegen all dies Elend und die Gefahren dürfen sich die Nachbarn nicht einmal mit hohen Mauern schützen. Sie beklagen, dass ihnen das die örtlichen Bauvorschriften untersagen: "Mauern sind gar nur als notwendige Stützmauern bis zu einer Höhe von 1 m zulässig."
Die Furcht vor Flucht und Flüchtlingen und das das materielle Eigeninteresse inspirierten die Anwälte zu einem abstrusen Argumentationsmuster, das die Opfer von Bürgerkriegen und Menschenrechtsverletzungen zu Tätern macht, die programmatisch Rechtsverletzungen begehen. Mit ihnen ist Kommunikation gar nicht möglich, schon weil die deutschen Nachbarn durch die "Mehrheitsverhältnissse" benachteiligt werden und somit eine verfolgte Minderheit sind. Die Bürgerkriege, denen die künftigen Flüchtlinge gerade entronnen sein werden, werden gedanklich in die eigene, noch idyllische Nachbarschaft projiziert.
Die Eigentümerfamilien sehen sich als Kämpfer gegen das Unrecht der Flüchtlinge, das die noch gar nicht begangen haben und wohl auch nie begehen werden: "Das Recht braucht dem Unrecht aber nicht zu weichen", schreiben sie trotzig. Ihr Recht, das sie durch wenige juristische Floskeln und blutige Kampfszenarien herleiten lassen, besteht hauptsächlich darin, keine "bodenrechtliche(n) Spannungen" wie die "Wertminderung der Grundstücke", deren Unverkäuflichkeit wegen der "schleichenden Gettoisierung des einst renommierten Baugebiets Hattenbühl" hinnehmen zu wollen.
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Christoph Keiper
am 01.09.2014