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Aufschrei aus LE

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Seit Wochenanfang läuft die Erörterung, wie sich der Landesflughafen an das Bahnprojekt Stuttgart 21 anschließen lässt. Ein Gutachten der Stadt Leinfelden-Echterdingen prophezeit ein S-Bahn-Chaos in der gesamten Region, falls die Bahn ihre Antragstrasse bauen darf.

Es war ein Paukenschlag, den Roland Klenk wenige Tage vor Beginn des mehrwöchigen Verhandlungsmarathons zum Planfeststellungabschnitt 1.3 (PFA) von Stuttgart 21 setzte. Mit einem Gutachten gelang es dem Oberbürgermeister von Leinfelden-Echterdingen, die offizielle Erörterungsverhandlung zum "Filderbereich mit Flughafenanbindung", gegen die rund 5500 Einwendungen vorliegen, zur weiteren Schicksalsfrage für das Milliardenprojekt zu machen. Im Auftrag der 37 000 Einwohner zählenden Doppelstadt "LE" hatte die Technische Universität Dresden die S-21-Pläne auf der Filderebene untersucht. Um deren Genehmigung bemüht sich die Bahn seit zwölf Jahren vergeblich.

Neben der Anknüpfung der Hochgeschwindigkeitstrasse von Ulm und einem neuen Flughafen-Bahnhof sehen die S-21-Pläne für Fern- und Regionalverkehr aus dem Süden des Landes künftig einen Umweg über die Fildern vor. ICEs und Regionalzüge von und nach Singen und Zürich sollen auf der bestehenden S-Bahn-Strecke durch die Ortskerne von LE und den bisherigen S-Bahn-Halt am Airport fahren. Bislang erreichen sie den Stuttgarter Hauptbahnhof über die Gäubahntrasse, die sich am Rand des Talkessels in die Schwabenmetropole schlängelt. Das Simulationsergebnis des Dresdner Uni-Instituts für Bahnverkehre und Öffentliche Verkehre ist eindeutig: Insbesondere während der Hauptverkehrszeiten morgens und abends drohen aufgrund des "Mischverkehrs" sowie wegen Kreuzungsengpässen auf der Trasse erhebliche Verspätungen, die sich im gesamten Schnellbahnsystem der Region aufschaukeln. In anderen Worten: Der Region Stuttgart blüht ein ewiges S-Bahn-Chaos, falls Stuttgart 21 auf den Fildern wie von der Bahn beantragt gebaut wird.

Als Ausweg aus dem drohenden Verkehrskollaps haben die Wissenschaftler nur unbefriedigende Lösungen parat: etwa auf zusätzliche Züge in den Hauptverkehrszeiten zu verzichten. Auch raten sie von der seit Jahren geforderten Verlängerung der S-Bahn-Linie 2 über Filderstadt nach Neuhausen ab, da "im Zielzustand der Bahnhof Flughafen Terminal für die S-Bahn gemäß Vorgaben nur eingleisig nutzbar ist und zudem die Ausfahrt aus Flughafen Terminal in Richtung Filderstadt bzw. die Einfahrt der S-Bahnen nach Filderstadt zu den größten Verspätungspunkten im Untersuchungsraum zählt".

Zukunftsfähigkeit des Schienennahverkehrs gefährdet?

Für LE-OB Klenk ist der Knackpunkt klar: "Eine Mitbenutzung der S-Bahn-Trasse durch den Fern- und Regionalverkehr ist den Bürgerinnen und Bürgern nur dann zuzumuten, wenn dies ohne Beeinträchtigung der Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der S-Bahn möglich ist und ausreichend Spielraum für zukünftige Verbesserungen des Schienenpersonennahverkehrs vorhanden ist", machte das Stadtoberhaupt bereits am ersten Erörterungstag deutlich. "Das von der Stadt beauftragte Gutachten setzt große Fragezeichen, ob die für uns alle wichtige Zukunftsfähigkeit des ÖPNV auf der S-Bahnstrecke gewährleistet bleibt", so CDU-OB Klenk, der als grundsätzlicher Befürworter des Milliardenprojekts gilt.

Der Aufschrei aus Leinfelden-Echterdingen überrascht Kritiker des Milliardenprojekts kaum. Schon nach Bekanntwerden der ersten Filder-Trassenpläne hatte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 von "Murksplanung" gesprochen. Auch während der Schlichtung im Herbst 2010 hatten die Projektgegner davor gewarnt. Als Alternative wurde daraufhin eine Neubautrasse entlang der Autobahn mit einem zusätzlichen Flughafenbahnhof diskutiert. Weil das Land nach dem Machtwechsel zu Grün-Rot es kategorisch ablehnte, die damals auf 224 Millionen Euro taxierten Mehrkosten der Variante zu finanzieren, blieb es bei der alten Antragstrasse.

Diese fiel im Sommer 2012 beim sogenannten Filder-Dialog, bei dem "Betroffene" um ihre Meinung gefragt wurden, erneut durch. Eine Mehrheit sprach sich gegen Mischverkehre auf der innerörtlichen S-Bahn-Strecke und damit für den Erhalt der Gäubahnstrecke aus. LE-OB Klenk hatte damals unter Protest vorzeitig das Dialog-Forum verlassen. Für ihn war die Veranstaltung letztlich eine Phantomdiskussion, weil die S-21-Projektpartner Bahn und Land sich darüber ausschwiegen, welche Planungsvarianten überhaupt finanzierbar und damit verhandelbar waren.

In dürren Worten versprachen die Projektpartner nach Dialog-Ende zwar, die empfohlene "Variante 4 – Flughafenbahnhof unter der Flughafenstraße" vertieft zu prüfen. Tatsächlich blieben es Worte ohne Wert: Die Bahn hielt weiter an den alten Planungen fest – die jetzt durch das Gutachten der Technischen Universität Dresden erneut zu Makulatur geworden sind. Im aktuellen Erörterungsverfahren wird die Bahn, wie schon all die Jahre zuvor, eigene Betriebssimulationen – und damit völlig andere Ergebnisse als die unabhängigen sächsischen Wissenschaftler – präsentieren.

Demnach würden auf dem rund 6,5 Kilometer langen Streckenabschnitt zwischen der Rohrer Kurve beim LE-Teilort Oberaichen und der Flugenhafenstation Terminal neben den heutigen vier S-Bahnen pro Stunde und Richtung, die auch in Zukunft vorgesehen sind, zusätzlich nur ein stündlicher Regionalzug und ein zweistündlicher Fernzug je Richtung verkehren. "Die Kapazität der Strecke wird damit noch nicht einmal zur Hälfte genutzt – der große Rest steht als Reserve für zusätzliche Züge und für eine weiterhin sehr hohe Pünktlichkeit zur Verfügung", behauptete etwa der ehemalige Bahnmanager Manfred Poethke während des Filder-Dialogs 2012. Im gleichen Vortrag verwies Poethke darauf, dass sich bei steigenden Zugzahlen auch eine Neubaustrecke beispielsweise entlang der Autobahn zu einem späteren Zeitpunkt nachrüsten ließe. Warum diese Lösung nicht sofort realisiert wird, verriet er nicht.

Projektsprecher Dietrich prophezeit rosige S-Bahn-Zukunft

Auch im projekteigenen Internet-Forum "Direkt zu Stuttgart 21", waren Verspätungen im Filderabschnitt ein heiß diskutiertes Thema. S-21-Projektsprecher Wolfgang Dietrich beruhigte Zweifler stets. "Größere Verspätungen werden nur im Umland aufgebaut und sind unabhängig von Stuttgart 21", versicherte Dietrich am 12. Dezember 2011 einem Fragesteller, der sich besorgt nach Verspätungspotenzialen auf den Zulaufstrecken zum Tiefbahnhof erkundigt hatte.

In einem Beitrag vom 6. Februar 2012 verwies Dietrich auf den sogenannten Stresstest zu Stuttgart 21, in dem zwischen dem bestehenden Flughafenbahnhof und Rohr sogar vier S-Bahnen und drei Regionalzüge im Simulationsdurchlauf unterstellt seien. "Mit sieben Zügen je Stunde und Richtung wird die Auslastung der vorhandenen Gleise verbessert, ohne die Strecke zu überlasten. Unter dem Strich wird sich die Betriebsqualität der S-Bahn damit spürbar verbessern", behauptete er.

Stellt sich die Frage, warum Bahn und Wissenschaftler zu völlig gegensätzlichen Ergebnisse kommen. Eine Antwort dürfen Interessierte am kommenden Montag und Dienstag während der Erörterungsverhandlung erwarten, wenn die Leistungsfähigkeit der Antragstrasse auf der Tagesordnung steht. Ein Hinweis findet sich im Gutachten der Dresdner Eisenbahnexperten: Demnach ergeben sich die Unterschiede zu den Stresstest-Simulationsergebnissen insbesondere durch höhere Mindestwendezeiten und Mindesthaltezeiten für S-Bahnen im Flughafen-Halt. Dadurch lasse sich die im Stresstest angegebene Pufferzeit von 69 Sekunden nicht mehr realisieren. Die Dresdner ermittelten dagegen Pufferzeiten von 21 und 27 Sekunden zwischen auf dem gleichen Gleis ein- und ausfahrenden S-Bahnen. Im Bereich Rohrer Kurven identifizierten sie einen noch gravierenderen Engpass: Zwischen Regionalzügen und der S-3-Linie bleiben Puffer von nur elf Sekunden, zwischen ICE und S-Bahnen von sogar nur drei Sekunden. Projektkritiker hatten schon immer geargwöhnt, dass der S-21-Stresstest mit durch unrealistische Haltezeiten zu einem positiven Gesamtergebnis für das Milliardenprojekt kam.

Verkehrsclub sieht Einsparpotenzial von halber Milliarde

Angesichts der fragwürdigen Leistungsfähigkeit hält es der ökologische Verkehrsclub VCD für unverantwortlich, erheblich kostengünstigere und leistungsfähigere Varianten weiter zu ignorieren. "Während in Düsseldorf für 50 Millionen Euro und in Frankfurt für rund 100 Millionen Euro Fernbahnhöfe an Flughäfen errichtet worden sind, soll in Stuttgart die Flughafenanbindung über 730 Millionen Euro kosten", kritisiert VCD-Landesvorsitzender Matthias Lieb. Deshalb sollten aus VCD-Sicht der Fernbahnhof am Flughafen oberirdisch gebaut und die Gäubahn erhalten werden. Im Filder-Dialog sei diese Kombivariante vom Schweizer Ingenieurbüro SMA als leistungsfähig mit weiteren Fahrplanreserven und hoher Fahrplanstabilität beurteilt worden, so der VCD. Überschlägig erwartet Lieb hierbei Baukosten von rund 250 Millionen Euro. Dies würde rund 500 Millionen Euro gegenüber der Antragstrasse sparen.

Weiterer Engpass auch im Tiefbahnhof? 

Doch die auch von Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) eingeforderte Alternative, nämlich die Gäubahn-Züge weiterhin über die Bestandsstrecke zu führen und über einen etwa 2,5 Kilometer langen Kehrtunnel mit dem neuen Fernbahntunnel aus Bad Cannstatt in Richtung Tiefbahnhof einzufädeln, scheint nach Kontext-Recherchen problematisch. Zwar weist der dafür genutzte Zulauf aus Bad Cannstatt die geringste Belastung aller Tiefbahnhof-Zuläufe auf. Es wäre noch genügend Kapazität für den Gäubahn-Verkehr mit drei Zügen pro Stunde (Summe beider Richtungen im Grundtakt) vorhanden. Als Nadelöhr erweisen könnte sich jedoch der achtgleisige Tiefbahnhof selbst, auf dessen Westseite die Gäubahn-Züge verkehren müssten. Die Bahnsteiggleise 1 bis 4 gelten in der morgendlichen Spitzenzeit bereits als stark belastet.

Auf eine entsprechende Frage im Dialog-Forum "Direkt zu Stuttgart 21" hatte Projektsprecher Wolfgang Dietrich die Gäubahnanbindung an den Hauptbahnhof über die Bestandsstrecke als grundsätzlich möglich beschrieben. Obwohl "die Belastung der Westseite des neuen Hauptbahnhofs (Bahnsteiggleise 1 bis 4) gegenüber der Ostseite (Gleise 5 bis 8) in der morgendlichen Spitzenstunde bei einer solchen Lösung weiter zunehmen würde, könnten einzelne zusätzliche Züge auch hier untergebracht werden", antwortete Dietrich am 25. Juni 2012. Schließlich biete der neue Hauptbahnhof "über die im Stresstest nachgewiesenen 49 stündlichen Zugankünfte noch ausreichend Reserven", beruhigte Dietrich den Fragesteller. Genau dies bezweifeln Projektkritiker jedoch seit jeher.

 

Eröterungstermine zur Leistungsfähigkeit der Antragsplanung: Montag, 29. September, und Dienstag, 30. September 2014, jeweils ab 9 Uhr in Halle 4 der Messe Stuttgart.


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8 Kommentare verfügbar

  • Floh
    am 26.09.2014
    Antworten
    @M. Stocker
    Bravo! Hervorragender Kommentar - danke!
    Genau so funktioniert heute bürgerliche Politik. So wird die Bevölkerung tagtäglich (auch in anderen Bereichen) für dumm verkauft und ausgenommen. Die extreme und radikale Orientierung an Kapitalinteressen steht im Gegensatz zum Allgemeinwohl…
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