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Flucht nach nirgendwo

Flucht nach nirgendwo
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Aus dem dunklen Dickicht am Rande des Schwarzwalds dringen Stimmen. Die gehören 68 Männern aus Pakistan, Syrien, Afghanistan oder dem Irak. In einem Flüchtlingsheim mitten im Nirgendwo leben sie, verteilt auf drei Stockwerke. Bis zur nächsten Bushaltestelle laufen sie 25 Minuten durch den Wald. Sie wollen da raus. Aber so einfach ist das nicht.  

Salem Mohamood Ayzdo führt eine Zigarette zum Mund, knipst mit der linken Hand sein Feuerzeug an und zieht. Die Flamme versengt den Tabak. Den Rauch presst er über die Lippen hinaus, er verteilt sich auf 4,5 Quadratmetern. So viel Enge steht dem irakischen Asylbewerber in der Gemeinschaftsunterkunft Holzbachtal im Enzkreis zu.

Der Rauch wabert zur niedrigen Zimmerdecke hinauf, streift eines von zwei Stockbetten: durchgelegene Matratzen auf quietschendem Lattenrost, gelbliche Umrisse von alten Flecken auf den Bezügen, jemand hat mit schwarzem Stift arabische Worte auf die ausgebleichten Tapete geschrieben. Gegenüber dem Bett steht ein Fernseher, darauf eine kleine Uhr. Die Zeiger bewegen sich, aber im Flüchtlingsheim an der Pforte zum nördlichen Schwarzwald beachtet sie niemand. Die Zeit ist nicht so wichtig. Davon haben sie dort genug.

Kürzlich haben die Medien darüber berichtet, dass in Stuttgart Flüchtlinge demonstrieren – gegen Essen in Paketen, gegen dauernde Bevormundung und für die Möglichkeit auf Arbeit und Integration. Sie kamen aus Bad Mergentheim, aus einem der 71 Heime, die es in Baden-Württemberg gibt. Die Zustände dort: gruselig, sagten sie. In dem Asylbewerberheim im Holzbachtal zwischen Bad Herrenalb und Straubenhardt sind sie anders. "Romantisch" sei die Landschaft, schreibt die Gemeinde auf ihrer Homepage, "herrlich" und inmitten von "sechs liebenswerten Dörfern".

Hinter dem weißen Haus mit der braunen Aufschrift "Pension" kommt dichter Wald. Seine besten und auch die guten Jahre hat das Haus lange hinter sich. Es gibt kein Internet und kein Handynetz. Pforzheim, die nächstgrößere Stadt, ist 20 Kilometer weit weg. Ein Busticket dorthin kostet etwas über drei Euro, mehr als 40 Minuten Fahrtzeit, den 25-Minuten-Fußmarsch zur Haltestelle nicht mitgerechnet. Die Gäste, die sich früher ein Zimmer in dem abgelegenen Gasthaus nahmen, waren auf Ruhe, Entspannung und Abgeschiedenheit aus. Die Flüchtlinge, die jetzt hier leben, suchen das Gegenteil. Sie wollen Teil der Gesellschaft werden, dazugehören. Aber dazugehören ist nicht so einfach, wenn man mitten im Nirgendwo leben muss.

Erst die Flucht – und was kommt dann?

Salem sieht aus dem Fenster. Der 24-Jährige teilt sich die Aussicht auf den verfallenden Gasthof nebenan mit drei Mitbewohnern. Der eine stammt aus Syrien, der Nächste aus Afghanistan, der dritte floh aus Russland.

Für 7000 Euro bekam Salem einen Platz auf der Ladefläche eines Lkw. Der Schlepper brachte ihn versteckt hinter geladenen Waren aus dem Irak über die Türkei und Italien nach Deutschland. Das Geld für die Fahrt bekam er von seinem Vater, der mit der Mutter und den sechs Brüdern in seiner Heimat zurückgeblieben ist. Von seiner Freundin hat Salem seither nichts mehr gehört. Warum er fliehen musste, will er nicht sagen: "Ich hatte Probleme mit ein paar Leuten", erzählt er. Salem starrt auf die Tischplatte, sein Fuß wippt auf und ab.

In der Landeserstaufnahme-Einrichtung in Karlsruhe, in der alle Flüchtlinge, die in Baden-Württemberg ankommen, aufgenommen werden, stranden seit Mai dieses Jahres jeden Monat 1000 neue. Danach werden sie auf die verschiedenen Stadt- oder Landkreise verteilt. Einfluss auf ihren Wohnort können die Asylbewerber nicht nehmen. Wer in eine Wohnsiedlung oder in eine Unterkunft im Stadtzentrum kommt, hat Glück gehabt. Salem und seine 67 Mitbewohner hatten Pech. Von Karlsruhe aus kamen sie ins Flüchtlingsheim Holzbachtal in der Gemeinde Straubenhardt. Salem lebt schon seit zweieinhalb Jahren dort – und "will weg!".

Mit jedem weiteren politischen Beben flüchten immer mehr Menschen aus Gambia, Afghanistan, Pakistan, Russland oder dem Irak. Baden-Württemberg will laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zum Ende des Jahres bis zu 11 000 Geflüchtete aufnehmen. Im Jahr 2007 lag die Zahl noch bei rund 1500.

Bundesweite Protestaktionen ohne Wasser und Brot

Ihren Protest äußerte eine Gruppe Flüchtlinge Ende Juni medienwirksam auf dem Münchner Rindermarkt, mit einem Hungerstreik. Und mit Erfolg: Das Protestcamp wurde zwar von der Polizei aufgelöst, aber vier Wochen später beschloss die bayerische Staatsregierung eine Lockerung des sogenannten Sachleistungsprinzips. Anstelle wöchentlicher Essenspakete sollen die Flüchtlinge Bargeld erhalten, um sich selber davon Lebensmittel zu kaufen. Die Regelung, die nun in Bayern eingeführt werden soll, gibt es in Baden-Württemberg schon seit 2012, sie kann, muss aber nicht angewendet werden und kommt nur in manchen Landkreisen zum Zug. In Bad Mergentheim nicht und auch nicht im Holzbachtal.

In Stuttgart forderten Asylbewerber aus dem Main-Tauber-Kreis vor drei Wochen dasselbe und demonstrierten vor dem baden-württembergischen Integrationsministerium. Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) versprach, sich um zusätzliche Wohnungen zu kümmern und von Oktober an jedem erwachsenen Asylbewerber eine Kleiderpauschale von 32 Euro bar auszubezahlen. Ein guter Weg. Aber so schnell geht das alles nicht.

Die Chancen auf einen Arbeitsplatz sind gering

Salem will aber, dass sich schnell etwas ändert. Er will arbeiten, unabhängig sein. Im Irak habe er bis zum vierten Semester Biologie studiert. Im Enzkreis hat er einen Deutschkurs gemacht. Drei Mal hat er sich um einen Arbeitsplatz in Pforzheim beworben, drei Mal wurde der Antrag abgelehnt. Die Stadt hat mit 7,5 Prozent die höchste Arbeitslosenquote im Land.

Weil Salem länger als ein Jahr in Deutschland lebt, dürfte er eigentlich arbeiten. Da es aber "bevorrechtigte Arbeitnehmer" gibt (Deutsche oder Migranten aus der EU) stehen seine Aussichten schlecht. "Ich habe ein Praktikum in einem Dönerladen gemacht, das wurde aber nicht bezahlt", sagt er. Dafür durfte er dort umsonst essen.

In der Unterkunft im abgelegenen Holzbachtal spricht fast niemand Deutsch, Salem übersetzt oft für seine Freunde aus Syrien oder dem Irak. Die Chance auf einen festen Job steht schlecht. Und wenn sie doch einen finden würden, würde der kaum etwas einbringen. Ein Asylbewerber, der noch nicht anerkannt ist, kann pro Stunde höchstens einen Euro und fünf Cent verdienen. Der Lohn darf die Grenze von 100 Euro im Monat nicht überschreiten. Immerhin: Es wäre eine Möglichkeit, die Langeweile in diesem abgelegenen Tal zu therapieren.

Jeden Tag ist Küchenschlacht

Salem geht über den speckigen gelblichen Linoleumboden seines Zimmers über kleine Löcher und Risse hinaus auf den Flur und startet seinen Rundgang durchs Haus. Von rechts knallen Schüsse, dazu dröhnt schrilles Geschrei aus den Lautsprechern eines Fernsehers. Irgendwo im Haus krachen Türen, Männer rufen sich etwas auf Arabisch zu. Der Lärm beginnt in der Früh und endet manchmal gegen drei oder vier Uhr nachts. Über Salems schwarzen kurzen Haaren baumelt ein loses Kabel, über dem gesplitterten Holzgeländer trocknen löchrige Handtücher, eine blaue Unterhose und ein fusseliger Waschlappen.

Salem schlendert mit leisen Schritten ein Stockwerk tiefer, vorbei an eng aneinanderliegenden Holztüren, die mit weißer Farbe beziffert sind. Es riecht nach Urin. Unten in der Küche glänzt der Steinboden von altem Bratfett. Salem mustert einen Pakistani mit schwarzem Vollbart, der sich Kartoffeln brät. Er steht am einzigen Herd. Es gibt keine Teller, keine Tassen, keinen Esstisch, keinen Stuhl. Die Neonröhre an der Decke klickt und summt. 68 Männer teilen sich die Küche. Der Ärger ist vorprogrammiert.

Auf einem Tisch liegt der Inhalt der Essenspakete verstreut, die jeden Montag und Freitag in die ehemalige Pension geliefert werden. Pro Mann gibt es einen Apfel, zwei Tomaten, rotes Fleisch oder Hühnchen, zwei Fladenbrote, etwas Wurst. Käse oder Paprika sind nie dabei. Das muss für drei oder vier Tage reichen, je nachdem, wann der Lkw wieder vorbeikommt. Den Reis isst Salem nicht. In seinem Heimatland isst man keinen Reis. Die Packungen stapeln sich in seinem Zimmer.

Die "Extrawurst" gibt es im Supermarkt

Salem sagt: "Die Qualität des Essens ist nicht gut, und es ist immer dasselbe." Das Landratsamt sagt: "Durch die Lebensmittelpakete kann eine umfassende und ausgewogene Versorgung am besten gewährleistet werden, da der Lieferant die Pakete nach ernährungswissenschaftlichen Grundsätzen zusammenstellt."

Der Landkreis könnte, wie es andere Landkreise in Baden-Württemberg seit 2012 auch tun, die Versorgung mit Paketen einstellen und auf Bargeld oder zumindest Gutscheine für Partnerläden umsatteln. Tut er aber nicht. Das Essen wird weiterhin vom Lebensmittelservice Dreikönig aus Schwäbisch Gmünd geliefert. Der Flüchtlingsrat sieht darin eine "starke Beschneidung der eigenen Selbstbestimmung". Viele Nahrungsmittel seien nicht kompatibel mit den Essgewohnheiten der Geflüchteten. Und so machen die sich in Gruppen oder allein auf den Weg zum nächstgelegenen Supermarkt, um sich von ihren 138 Euro Taschengeld im Monat ein paar Lebensmittel extra zu kaufen.

"Nächstgelegen" bedeutet drei Kilometer über Stock und Stein durch den Wald oder auf dem Randstreifen der stark befahrenen Landstraße entlang. "Im Dunkeln gehe ich nicht in den Wald, das macht mir Angst", sagt Salem. Wenn sie eine Alternative zum üblichen Tagesablauf "schlafen, fernsehen, essen, schlafen, fernsehen, essen und schlafen" suchen, müssen sie aber aus der räumlichen und sozialen Isolation herauskommen. Heimleiter und Hausmeister bezeichnen die Wohnsituation der Flüchtlinge als "optimal". "Denen geht es doch gut hier, wir kümmern uns um sie."

Logistische Herausforderung für Gemeinden

Aus der zuständigen Behörde, dem Landratsamt Enzkreis in Pforzheim, schildert Landrat Karl Röckinger die Situation nüchterner: "Sicher ist die Lage im Holzbachtal nicht optimal, sondern abgelegen und schlecht an öffentlichen Verkehrsmittel angebunden." Der Landkreis müsse ständig zusätzliche Asylsuchende aufnehmen und gleichzeitig immer mehr Fläche pro Flüchtling zur Verfügung stellen, sagt Röckinger. Das sei das Problem.

Die Fläche, die jeder einzelne Asylbewerber im Holzbachtal zur Verfügung hat, sind viereinhalb Quadratmeter. In Berlin wurde kürzlich ein neues Gefängnis gebaut, in dem jeder Häftling eine Zehn-Quadratmeter-Zelle bekommt. Der Berliner Verfassungsgerichtshof hatte entschieden, dass Zellen unter sechs Quadratmeter menschenrechtswidrig seien. Wie viele Quadratmeter pro Flüchtling ausreichen, liegt im Ermessen der jeweiligen Bundesländer. In Baden-Württemberg könnte der Wohnraum auf sieben Quadratmeter angehoben werden.

Zurzeit steht Landrat Röckinger vor folgendem Problem: "In der nächsten Zeit werden uns vom Land fast genau so viele zusätzliche Flüchtlinge zugewiesen, wie das Haus im Holzbachtal aufnehmen kann." Der Landrat hat in der vergangenen Woche dem Kauf eines Gebäudes näher am Ort zugestimmt. Somit hätten zumindest die Neuankömmlinge bessere Voraussetzungen und mehr Kontakt zur deutschen Bevölkerung. Das beschränkt sich im Holzbachtal auf ein paar Freiwillige, die Patenschaften für einzelne Flüchtlinge übernommen haben, und auf die Sozialarbeiter vom Verein "miteinanderleben", die den Flüchtlingen mit dem verklausulierten Behördendeutsch weiterhelfen und Fragen zum Asylverfahren klären. "Wir sehen hier nie Deutsche, die kommen nicht hier raus." Salem zieht eine Augenbraue hoch und sieht in die Ferne, dahin, wo "die" wohnen. In dem Gasthof gegenüber leben zwar Deutsche, "die grüßen aber nie".

Eine Schließung der Unterkunft im Holzbachtal steht nicht zur Debatte. Auch nicht, dass sich dort bald etwas ändert. Und so sitzen sie weiterhin in diesem alten, heruntergekommenen Gebäude im Nirgendwo und warten, das es irgendwann besser wird. Zeit haben sie genug.

Salem tritt hinaus auf den Balkon, unter ihm gibt der Boden nach, die weißen Platten sind zertrümmert. Unter ihm rauscht ein Bach, in den Pfützen auf dem schlammigen Pfad spiegelt sich der graue Himmel. Irgendwann, sagt Salem, würde er gerne sein Studium zu Ende bringen. Dann steckt er sich wieder eine Zigarette an. Den Rauch bläst er in die Waldluft. Der graue Dunst macht sich auf und davon.


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3 Kommentare verfügbar

  • Horst
    am 16.12.2013
    Antworten
    Eine riesen Sauerei was die fettgefressenen Sthuhlfurzer diesen armen Menschen da zumuten!
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