Als "erste Hochzeit der Partizipation" gelten in der Bundesrepublik die 1970er- Jahre. Die außerparlamentarischen Bewegungen der 60er- und 70er-Jahre hatten für mehr Demokratie gestritten und unter anderem durch Hausbesetzungen darauf hingewirkt, dass das Städtebaurecht geändert wurde. Seit 1971 sind Planungsprozesse per Gesetz von Beginn an für Bürgerinnen und Bürger geöffnet, damit sich "die bauliche Gemeindeentwicklung nicht über sie hinweg gleichsam von Amts wegen vollzieht", so eine Gesetzesvorlage.
Dass heute betont wird, was zum Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaften gehört, offenbart eine seltsame Diskrepanz zwischen Politikern und Bürgern. Dies spiegelt eine Studie der Universität Koblenz-Landau (2011) wider. Im Bürgerbild von Politikern, so ergab die Analyse, zeigen sich folgende Tendenzen: Der Bürger wird gesehen als schwer fassbares Subjekt, als widerspenstiges Kind, das belehrt und über seine eigenen Interessen aufgeklärt werden muss, als Empfänger staatlicher Gaben und Beitragszahler für das Gemeinwohl sowie als Mensch, der Freiheit fürchtet, aber Freiheit braucht, um sich und die Gemeinschaft zu entwickeln.
Wenn der so gesehene Bürger sich allerdings selbstständig macht, eigene Formen des Politischen entwickelt und mit Mündigkeit droht, wie etwa die Protestbewegung gegen Stuttgart 21, dann lösen derlei Beteiligungsversuche Verwirrung, ja Empörung aus. Deshalb reagierten Unternehmer auf die Beteiligung der Stuttgarter Bürger mit Aussagen wie: Man dürfe sich nicht "einem Teil der Öffentlichkeit beugen", so Dieter Hundt, vormals Chef des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Oder: Eine Anerkennung der Bürgerbewegung hätte "die parlamentarische Demokratie auf den Kopf" gestellt, so die IHK.
Bürgerbeteiligung wird gewährt, wenn sie nicht stört
Da drängt sich die Frage auf, ob Bürger jetzt – historisch gesehen: einmal mehr – beteiligt werden sollen, nachdem sie sich beteiligt haben, damit sie sich in einer ganz bestimmten Weise beteiligen. Etwa in dem Sinn, wie Klaus Selle einen leitenden Ministerialbeamten zitiert: "Bürgerbeteiligung ist gut, solange sie nicht stört." Sie soll offenbar verstanden werden als etwas von den Regierenden Gegebenes, Gewährtes, nicht aber als ein erstrittenes Recht.
Außerdem verspricht eine derart gewährte Beteiligung, rentabel zu sein. Innerhalb der Industrie hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Projekte durch Beteiligungsverfahren in der Regel schneller durchgesetzt werden können. Das liegt daran, dass zeitraubende und verzögernde Klageverfahren wegfallen. In diesem Sinne argumentiert auch die CDU Rheinland-Pfalz. Sie stellte ein "Sechs-Punkte-Programm für direkte Bürgerbeteiligung" vor. Die Überschrift: "Vertrauen zurückgewinnen – Verfahren beschleunigen". Die Projekte selbst sollen also nicht zur Disposition stehen, vielmehr geht es um die Beschleunigung der Verfahren. Solche Aussagen könnten innerhalb der Bürger ein gewisses Misstrauen schüren, dass nämlich Beteiligungsverfahren vor allem Alibicharakter haben, dass hier zwar Mitsprache, aber nicht Mitentscheidung stattfindet.
Von einem ähnlichen Beteiligungsprinzip berichtet der international renommierte Geograf David Harvey. Amerikanische Thinktanks favorisieren solche politischen Regimes, die den Bürgern ein gewisses Maß an Beteiligung zugestehen. Etwa bei der Frage nach der Begrünung öffentlicher Flächen oder der Gestaltung von Parkanlagen. Den Bürgern werden bestimmte Orte zugewiesen, wo sie "Beteiligung" praktizieren dürfen, während die Rahmenbedingungen von einer Zentralregierung entschieden werden. Als Erfolg versprechendes politisches Modell dient – China. "Große Regierung, kleine Gesellschaft", sagt man dort.
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Ulrich Frank
am 24.02.2015