Der erste Eindruck: Die Luft in dem Gebäude ist extrem trocken, kein Laut von draußen dringt rein, man ist abgeschottet im eigenen Kosmos. Die Abgeordneten und die Aufsichtsräte der Bahn, fast alle in ähnlichen Anzügen. Sie wirken wie gesättigte Senatoren, die sich nun auf etwas einlassen müssen, weil es die demokratischen Regeln vorschreiben, aber auf das sie jetzt überhaupt keine Lust haben: auf diese Anhörung zum Bahnprojekt Stuttgart 21.
Die Linken und die Grünen wollten "offene Fragen" klären. Das scheint ein frommer Wunsch geblieben zu sein.
Offene Fragen, die gibt es für die meisten nicht, das spürt man schon nach wenigen Sekunden. Die Fronten sind klar. Die Parteilinien sind einzuhalten. Wenn die Abgeordnete der Linken etwas sagt, murren und knurren die CDU-Leute, wenn der Abgeordnete der Grünen etwas anmerkt, gucken die SPDler in ihre Smartphones, sie tuscheln oder blättern in ihren Unterlagen – verblüffend flegelhaft das alles.
Und wir hatten immer gedacht, das Hohe Haus sei ein Hort der Seriosität.
Der Abgeordnete Funk (CDU) eröffnet die Sitzung, stellt seine erste Frage an die Bahn und endet so: "Niemand hat die Absicht, einen unsicheren Bahnhof zu bauen." Ich nehme später Funks Satz auf und sage: "Wir sind hier ja in Berlin, und da sagte schon mal jemand: 'Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten'." Plötzlich ist Leben im Raum, Zwischenrufe, Ausrufe: "Das ist ja, das ist eine Unverschämtheit!"
Immerhin, unsere Volksvertreter waren wach.
Ja, um kurz aufzujaulen. Doch während der ganzen Sitzung hatte ich keinen Moment das Gefühl, dass das Gros der Abgeordneten, die das Tun der Bahn in Stuttgart kontrollieren sollen, echtes Interesse an dem teuersten Bauprojekt in Deutschland haben. Für sie, so mein Eindruck, ist das Ganze ganz weit weg, irgendwo in der Südprovinz, irgendwie beschlossen, irgendwie abgesegnet – und dass S 21 finanziell aus dem Ruder läuft, dass sich S 21 in sehr vielen Fragen am Rande der Legitimität bewegt. Vielleicht sogar jenseits davon, die Stichworte sind Brandschutz, Kapazitätsabbau, die gegen alle Sicherheitsrichtwerte verstoßende Gleisneigung im Tiefbahnhof: Kokolores, alles lästige, lässliche Details, über die man gar nicht aufgeklärt werden möchte. Das wäre ja anstrengend. Gegen zwölf Uhr, die Anhörung geht bis 13 Uhr, kommt ein Saaldiener, fragt jeden und jede, ob man etwas essen möchte. Und dann redet man zu Abgeordneten, die auf ihren Snacks herumkauen.
Mit vollem Mund soll man auch nicht sprechen. Im Ernst: Mehr Ernsthaftigkeit wäre wünschenswert gewesen, demokratietheoretisch gesprochen.
Es ist ein Ritual. Ein Muss, das die meisten der anwesenden Abgeordneten einfach hinter sich bringen wollen. Wie ernst diese öffentliche Kontrolle vom wichtigsten, mit vielen Milliarden Euro Steuergeldern subventionierten Akteur genommen wird, dokumentiert sich daran, dass die Bahn und ihre anwesenden Experten es nicht für nötig hielten, für diese wichtige Sitzung, vorab eine schriftliche Stellungnahme abzugeben – es gehört sich so. Da drückt sich eine deutliche Verachtung, Überheblichkeit gegenüber den Parlamentariern und auch der Öffentlichkeit aus.
Das scheint uns nicht ganz neu zu sein. Die Bahn hat sich bei S 21 nie durch besondere Aufrichtigkeit ausgezeichnet.
Wenn die Sache nicht so wichtig wäre, könnte man es drollig finden, dass die Kritiker, wie in diesem Fall Matthias Lieb vom Verkehrsclub Deutschland und ich, sich in ihren schriftlichen Stellungnahmen um Argumente bemühen, die Bahn aber einfach dasitzt und sagt: Es ist alles gut. Die meisten Abgeordneten geben sich damit zufrieden. Sie geben sich auch zufrieden, wenn die Bahn bei fragwürdigen Dingen beruhigend auf Gutachten verweist. Nicht hinterfragt wird aber in der Anhörung, wie diese Gutachten zustande kamen. Ob die Bahn (wie etwa im Fall des so wichtigen Brandschutzes) ihr Rettungskonzept für die Kontrollbehörde von einem eigenen Sachverständigen beurteilen ließ. Dass die Kontrollbehörde der Bahn, das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), sich dafür keinen eigenen unbefangenen Gutachter besorgt hat. Sondern bei der "Begutachtung" akzeptiert hat, dass die Bahn kontrolliert, was der angeblich unabhängige Gutachter für das EBA formuliert – die Bahn ihr Sicherheitskonzept also selbst überprüft. Schon eigenartig, dass die Parlamentarier das hinnehmen.
Also alles in den Gully geredet.
Ich hoffe nicht. Nur einmal, ein einziges Mal, hörten allerdings alle aufmerksam zu, nur einmal verspürte man eine leichte Verunsicherung in der allgemeinen Gleichgültigkeit. Die Bahn ist ja eine Aktiengesellschaft. Es gilt das Aktienrecht. Jeder Aufsichtsrat ist damit verpflichtet, Schaden von seinem Unternehmen abzuhalten. Jeder ist persönlich haftbar. Es ist aber bekannt, dass S 21 jenseits der Rentabilität ist, also ein ökonomischer Schadbahnhof ist, dass Milliarden Euro Steuergelder womöglich verschwendet werden. Ich habe deshalb an die Finanzaffäre um die Nürburgring AG erinnert, bei der vor einem Jahr der rheinland-pfälzische Ex-Finanzminister und Aufsichtsratschef der Nürburgring AG, Ingolf Deubel (SPD), wegen Untreue und Gefährdung von Steuergeldern zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Die Nürburgringsache aber ist eine Lappalie im Vergleich zu S 21. Da war Ruhe im Saal.
Womöglich ist das eine sehr menschliche Reaktion. Niemand sitzt gerne im Knast.
Im neuen Aufsichtsrat der Bahn sitzen zwei juristisch versierte Personen: die frühere Justizministerin Brigitte Zypries und die Polizeikommissarin Kirstin Lühmann. Beide wissen von Amts wegen und von ihrer Ausbildung her, was Recht und Ordnung, Gesetz und Gesetzlichkeit sind. Man darf gespannt sein, wie sie die Tatsache verarbeiten, dass S 21 ein volkswirtschaftlich nicht zu verantwortendes Projekt ist. Denn: Die Rentabilitätsgrenze für S 21, so Bahnchef Rüdiger Grube, liegt bei 4,7 Milliarden Euro Baukosten – aber der Bau verschlingt schon jetzt 6,8 Milliarden Euro. Und noch eine kleine Anmerkung: Der anwesende Technikvorstand der Bahn, Volker Kefer, war einmal wirklich souverän süffisant – als der Grüne Matthias Gastel S 21 heftig kritisierte, konterte Kefer lächelnd: Sie haben hier in Berlin wohl noch nicht mitbekommen, dass Ihre Parteifreunde in Stuttgart in Sachen S 21 schon viel weiter sind als Sie! Und er lobte die überaus gute Zusammenarbeit mit den Stuttgarter Grünen, die sei "konstruktiv-vertrauensvoll". Vielleicht erklärt sich auch so, dass der grüne Verkehrsminister in Stuttgart, Winfried Hermann, nicht mal das Einfachste und Selbstverständlichste macht: zu verlangen, auch öffentlich zu verlangen, dass endlich die Kosten, die der Bundesrechnungshof zu S 21 erhoben hat, öffentlich gemacht werden. Diese Zahlen werden seit zwei Jahren unter Verschluss gehalten.
Das klingt alles sehr ernüchternd, um nicht zu sagen deprimierend. Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?
Ich hoffe, dass der eine oder andere Abgeordnete, die eine oder die andere Aufsichtsrätin der Bahn AG, angeregt durch diese Sitzung, sich doch noch um die so offenkundig allzu vielen offenen Fragen kümmert – jenseits von den offiziellen Bahnexperten. Und dass die regierenden Grünen in Baden-Württemberg es sich doch noch trauen, die Sinnhaftigkeit von S 21 zu hinterfragen – anstatt dieses Bauvorhaben nun so brav mitzutragen, von dem sie doch so genau wissen, dass es, freundlich gesagt: kompletter Unfug ist. Winfried Kretschman vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten über S 21: "Verfassungswidrig!" Winfried Hermann vor seiner Wahl zum Verkehrsminister über S 21: "Absurder Schwabenstreich!" Und dass sie sich daran erinnern, dass sie an der Macht sind, weil sie einst gegen S 21 waren. Vielleicht sind sie ja bald nicht mehr an der Macht, weil sie nun dafür sind. Das sind die Konsequenzen, die die Baden-Württemberger ziehen können.
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B. Noeske
am 17.05.2015