KONTEXT:Wochenzeitung
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Sonnenschein für alle

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Vier Fünftel der BürgerInnen sprechen sich für mehr Mitbestimmung aus, ebenso viele sind mit dem herrschenden repräsentativen System zufrieden. Partizipation lebt nicht nur vom Reden, sondern vom Handeln, Engagement und der Bereitschaft, sich mit Argumenten Andersdenkender auseinanderzusetzen, meint unsere Autorin.

Da basteln zwei an ihrer Villa Kunterbunt. Professor Peter Grottian im fernen Berlin wünscht sich beim Thema Bürgerbeteiligung <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik hoeren-im-hinterzimmer-2889.html>Ermutigung von unten sowie konturierte Konzepte von oben - und wäre unter den Ersten, die straffere Vorgaben für und durch die "<link http: www.kontextwochenzeitung.de debatte summen-und-brummen-2903.html>Politik des Gehörtwerdens" als unzulässigen Druck verstünden. Gisela Erler, die Staatsrätin, freut sich über ein Land, in dem es schon jetzt partizipatorisch summt und brummt. Ihr Planungsleitfaden, der einen inspirierenderen Namen tragen könnte, ist verdienstvoll, ihr Rückblick auf die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 ist es nicht. Weil einfach nicht stimmt, dass, wie Erler schreibt, das Verfahren korrekt gewesen sei (was allerdings noch lange nicht rechtfertigt, sie wie in Kontext-Kommentaren zu schmähen als "greise Bürgergouvernante").  

S 21 ist eine historische Lektion

Der Konflikt um den Tiefbahnhof ist eine historische Lektion in Sachen Bürgerdialog und -beteiligung, deshalb lohnt der Rückblick gerade auf die Wochen vor der Volksabstimmung: Wie hart hatten die Gegner darum kämpfen müssen, dass in die zehn Argumente, die jede Seite in der Infobroschüre an alle Haushalte im Land anführen konnte, der prognostizierte weitere Kostenanstieg "während der Bauzeit auf zwischen 5,3 und 6,3 Milliarden Euro" aufgenommen wurde. Und um den Satz: "Das wäre eine Verdoppelung des ursprünglich geplanten Betrags."

Schade, dass das Volk mehrheitlich nicht durchschauen konnte und/oder wollte, was damals im Herbst 2011 gespielt wurde, dass es sich sogar in Stuttgart lieber blenden ließ von hanebüchenen Plakaten wie "Weiter ärgern oder fertig bauen", mit denen finanzkräftige Projektunterstützer die Stadt zukleisterten. Unter den Pro-S 21-Argumenten waren mindestens fünf von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt: dass ganz Baden-Württemberg profitieren werde, der Tiefbahnhof sich als beste Variante für den Bahnknoten Stuttgart erwiesen habe und der Stresstest als bestanden gelte; die horrenden, nie belegten Ausstiegskosten von 1,5 Milliarden Euro und vor allem der inzwischen legendäre Punkt vier: "Die neueste Kostenkalkulation bestätigt, dass S 21 im Kostenrahmen ist und weiterhin einen Puffer für mögliche Baupreissteigerungen vorhält."

Der gebetsmühlenhaft wiederholte Verweis auf "die Medien" hilft nicht weiter. Nicht nur im SWR und in den Stuttgarter Blättern, sondern auch auf den Landesseiten der baden-württembergischen Zeitungen und in der überregionalen Presse fanden spätestens seit dem Regierungswechsel von 2011 die Positionen der Gegner, die Gutachten, die Hochrechnungen und alternative Planungen breiten Niederschlag. Wer's nicht glaubt, wird in der Landesbibliothek umfangreich fündig. Außerdem wären die mündigen, informierten und entscheidungsbereiten Wähler und Wählerinnen im Südwesten auf Medienkonsum gar nicht angewiesen gewesen: Nach damals exakt hundert Montagsdemos und hundert Stunden Schlichtung live, die bis heute im Internet wortprotokolliert nachzuverfolgen sind, hätte sich jeder selber ein Bild machen können. Annette Ohme-Reinicke irrt, wenn sie die insgesamt <link http: www.kontextwochenzeitung.de debatte ausser-reden-nichts-gewesen-2916.html>elf Gesprächsrunden im Rathaus kleinschreibt, weil doch nur Fakten im Sinne einer vorstrukturierten Entscheidung auf den Tisch gekommen seien. Und wenn sie die Zuschauer zu Laien degradiert, weil die ja nicht mitdiskutierten durften. Hat Mozart-Sachverstand denn nur, wer mitten im "Figaro" aufspringt und "Alla gloria militar!" mitschmettert?

Breite Zufriedenheit mit der herrschenden Demokratie

Politik beginnt bekanntlich mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Und die offenbart - ob das gefällt oder nicht -, dass nach dem kürzlich präsentierten "Demokratie-Monitor" ein großer Teil der Bevölkerung dem demokratischen Zustand Baden-Württembergs ein sehr ordentliches Zeugnis ausstellt. "In Auftrag gegeben wurde dieses Monitoring von der Baden-Württemberg-Stiftung, mit an vorderster Stelle Frau Erler. Schaut man sich die Personen des Aufsichtsrates dieser Stiftung an, dann kann man sagen: 'Sie werden mit dem Ergebnis zufrieden sein, denn Sie bekommen, was sie vermutlich gerne wollten'", kommentiert ein Kontext-Leser kurz, bündig und voreingenommen. Immerhin geht es um eine an den Unis Mannheim, Tübingen, Stuttgart, Freiburg laufende umfangreiche Untersuchung. Den Autoren in Bausch und Bogen ohne jede Begründung Käuflichkeit zu unterstellen, ist nicht nur dreist, sondern vor allem kein adäquater Beitrag zur Debatte.

Dass in der so vieles durcheinandergeht im Land, liegt aber an fehlender Leidenschaft ausgerechnet im Staatsministerium selbst. In Stuttgart findet in diesen Tagen eine hochrangig besetzte Demokratiekonferenz praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil keiner der Zuständigen die Staatsrätin bei der Vermarktung der zweitägigen Veranstaltung mit drei Dutzend Referenten, Workshops, Diskussionen und Vorträgen unterstützen wollte. Und der Ministerpräsident hat gleich zu Beginn der Legislaturperiode versäumt, zentrale Missverständnisse aufzuklären.

Kretschmann versprach 2011, beim Neujahrsempfang der Stuttgarter Grünen, im Falle einer Regierungsübernahme mehr Mitbestimmung im Sinne einer offenen Diskussion über Alternativen: "Dann ist es vorbei mit der Politik des Durchwinkens und des Abwinkens, weil wir darauf gefasst sind, dass die Bürgerschaft ein anderes Urteil fällen könnte, wenn unsere Argumente nicht stimmen." Kretschmann wollte immer einem "guten Ja ein gutes Nein als Grundausstattung eines jeden Demokraten" gegenüberstellen, mit der Bürgerschaft auf Augenhöhe diskutieren, nach "solchen Debatten kraftvoll entscheiden" und insgesamt eine andere Tonlage einziehen lassen in den politischen Alltag. Und er wollte ausdrücklich hören, aber nicht erhören. Was ihm ja nicht schlecht gelungen zu sein scheint, wenn ihm selbst Peter Grottian bescheinigt, durch "einen bodenständig-knorrig-reformerischen Ansatz" zu beeindrucken. Und weiter: "Die Bürgerinnen und Bürger verstehen ihn, er hört zu, er diskutiert mit sympathischer Leidenschaft, er kann Menschen sogar begeistern." 

Zumindest ein Teil der Bringschuld, die Sarah Händel in ihrem Beitrag "<link http: www.kontextwochenzeitung.de debatte deckmantel-fuer-desinteresse-2926.html>Denkmantel für Desinteresse" beschrieb, ist also erbracht. Und was ist mit der Holschuld? Sonnenschein für alle gibt es nicht und schon gar nicht umsonst. Das westlichste Bundesland Österreichs, Vorarlberg, unterstützt seine Bevölkerung in hohem Maße, Partizipation hat sogar - europaweit beispielhaft - Verfassungsrang. Der Aufwand allerdings ist beträchtlich. Seit Jahren arbeiten im "Büro für Zukunftsfragen", zehn (!) Beschäftigte, alle einschlägige Akademiker, um die Beteiligung in einem Land mit 380 000 Einwohnern und 96 Kommunen mit zu organisieren - direkt angesiedelt beim Regierungschef.

Politik dürfe sich nicht damit begnügen, "wenn die Bürger sagen 'Ja, wir würden gerne hin und wieder mal direkt entscheiden und wollen auch mehr einbezogen werden, aber im Prinzip sind wir zufrieden damit, die Verantwortung an euch abzutreten'", verlangt Händel. Und dreht sich ähnlich im Kreis wie Grottian. Wenn Kretschmann, Erler, Ober- und Bürgermeister, Gemeinderäte und Verwaltungen die Bevölkerung hierzulande wie verlangt besser zur Beteiligung rüsteten, würde sogleich der Verdacht laut, längst vorbereitete Hinterzimmer-Entscheidungen sollten doch nur partizipativ begleitet oder besser: verbrämt werden. 

Reale Gefahr: politische Rattenfänger

Und was wäre, spiegelbildlich betrachtet, nähme sich etablierte Politik ausdrücklich zurück? Wer füllte mit welcher Legitimation das entstehende Vakuum? Der aus Brackenheim stammende spätere Bundespräsident Theodor Heuss warnte einst im Parlamentarischen Rat davor, "mit Volksinitiativen und Volksentscheiden die künftige Demokratie zu belasten". Sie seien "eine Prämie für jeden Demagogen und die dauernde Erschütterung des mühsamen Ansehens, worum sich die Gesetzgebungskörper, die vom Volk gewählt sind, noch werden bemühen müssen, um es zu gewinnen". Ein hartes Urteil.

Und doch: Politische Rattenfänger, ausgestattet womöglich noch mit Charisma, dem nötigen Kapital - siehe Stuttgart 21 -, eine Bürgerschaft, die, wie etwa in Standortfragen bei Windrädern, zwischen Partikular- und Gemeinwohlinteresse teils nicht unterscheiden will und teils nicht kann, machen nicht nur der repräsentativen, sondern auch der direkten Demokratie zu schaffen. Überwiege bei den Gegnern direktdemokratischer Verfahren "vorurteilsbeladene Skepsis", analysiert der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, dominiere bei den Befürwortern häufig wirklichkeitsfremder Optimismus. 

"Warum so viel Theorie? Warum nicht das Schweizer Modell als funktionierendes und bewährtes Beispiel diskutieren oder gleich als Vorlage nehmen?" schlägt ein Kontext-Forist vor. Schließlich haben die Nachbarn seit dem 13. Jahrhundert einschlägige Erfahrung, sind traditionell durch Beteiligungsquoten unter 50 Prozent nicht aus der Ruhe zu bringen, nicht einmal durch die Vielzahl von Abstimmungen und immer neue Partizipations-Varianten, die mal eingeführt und dann - wie die Volksinitiative - wieder abgeschafft werden. Sie schlucken Kröten und knappste Entscheidungen oder beides, so wie im Februar 2014, als das rechtspopulistische "Gesetz gegen Masseneinwanderung" mit einer hauchdünnen Mehrheit angenommen wurde. Auch die Angst vor Überfremdung hat eine jahrzehntelange Tradition, war immer wieder Gegenstand von Volksabstimmungen und strapazierte zugleich in der Realsatire "Die Schweizermacher" die Lachmuskeln von Millionen, vornehmlich im deutschsprachigen Ausland.

Das Volk ist nicht dümmer als die Politiker - aber auch nicht klüger

In der Schweiz, für Kretschmann außenpolitischer Schwerpunkt und Bürgerbeteiligungsreferenzland, in dem die Hälfte aller Referenden weltweit stattfinden, sind Mechanismen und Strukturen so breit untersucht wie sonst nirgendwo. Ein zentrales Ergebnis: Jene Teile des Volks, die die Möglichkeit zur Mitbestimmung nutzen, bilden keineswegs den Querschnitt der Bevölkerung ab. In ihrer Mehrzahl sind sie immer besser gebildet und immer besser situiert als der Durchschnitt. Verschärft durch die gegenüber normalen Wahlen immer geringere Beteiligung bei Volksentscheiden führt das stetig und zusätzlich zu neuen Ungerechtigkeiten und sozialen Schieflagen. "Existenzangst fressen demokratische Seele auf", so Linken-Chefin Katja Kipping.

Wie in Hamburg vor fünf Jahren: Überdurchschnittlich kampagnenfähige Bildungsbürger und -bürgerinnen ließen dort - im elitären Irrglauben, Heterogenität schade ihren Kindern - eine von allen Parteien gewollte Schulreform hin zu mehr gemeinsamem Lernen und zur Abkoppelung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft scheitern. Die Eltern der Kinder, die profitiert hätten, waren weit unterdurchschnittlich interessiert am Plebiszit. "Egoismus macht Schule", urteilte die "Tagesschau" auf ihrer Internet-Seite. Politiker hätten diesmal genau das getan, was gemeinhin erwartet werde, sie hätten "sich nicht an Parteipolitik oder Tagesumfragen, sondern an der Sache und der einhelligen Expertenmeinung orientiert, einen Kompromiss geschlossen und gemeinsam gekämpft, aber dieser Schulterschluss wurde abgestraft".

Natürlich ist das Volk mit den für direkte Demokratie mobilisierbaren Teilen nicht blöder als seine Repräsentanten - klüger aber eben auch nicht. Ohnehin hält die grassierende Verachtung für eine Politikerkaste, der möglichst viel möglichst Schlechtes unterstellt wird, in Wahrheit einem Realitätstest nicht stand. Händel wirft allen vier Landtagsfraktionen vor, die große Chance verpasst zu haben, "im Land eine lebendige, ja eine aufwühlende Debatte zur Demokratie, ihren Mängeln und ihren Perspektiven anzustoßen", denn, "dezentral geführt", hätte sie "noch mehr von der demokratischen Aufbruchsstimmung profitiert, die in der Hochzeit der Stuttgart 21-Bewegung so greifbar war". Wer aber hat wen daran gehindert, diese Debatte zu führen, zu reden, zu streiten, sich Gehör zu verschaffen? Die Landesregierung und die Bürgergouvernante jedenfalls nicht.


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17 Kommentare verfügbar

  • Kornelia
    am 16.06.2015
    Antworten
    Gerade noch gefunden

    Finde die Unterschiede
    Schuster/Kaiser/ Seite! (Stand 2015!)
    http://www.buergerforum-s21.de/
    Oberbürgermeister a.D. Dr. Wolfgang Schuster: "Das Forum soll helfen, den Dialog weiterzuführen und den Baufortschritt kritisch zu begleiten. Darin werden wir mit Experten all die…
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