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Summen und Brummen

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Das Land summt und brummt vor Beteiligung. Schreibt Staatsrätin Gisela Erler in ihrem Beitrag für Kontext. Die BürgerInnen schätzten den neuen Stil, den Ministerpräsident Kretschmann genau so versprochen habe. Sie kontert damit Peter Grottian, der vergangene Woche die Politik des Gehörtwerdens scharf kritisiert hat.

Ja, es stimmt: Die Gesetze zur Veränderung der Gemeindeordnung und der Verfassung in Baden-Württemberg sind im Verzug. Sie sollten längst im Parlament verabschiedet sein. Ja, es stimmt: Die Abstimmungsquoren bei Bürger- und Volksentscheiden werden nur auf 20 Prozent abgesenkt. Vor allem die Grünen hatten ursprünglich weit niedrigere Hürden im Blick. Aber es stimmt eben auch, dass die Gesetzesvorhaben kurz vor ihrer Verabschiedung stehen, mit unstrittig durchaus weitreichenden Verbesserungen für die Demokratie im Land.

Die Verzögerungen sind der Tatsache geschuldet, dass über die Inhalte im Parlament und zwischen den Regierungsfraktionen lange gestritten wurde. Das Parlament hat viele Mitglieder, deren Wurzeln in der Kommunalpolitik liegen. Die Sorgen vor einer Senkung der Quoren und der Beteiligung der Bürger an der Bauleitplanung sind groß. Auch der grüne Oberbürgermeister Salomon aus Freiburg warnt laut davor. Der Gemeindetag, der den Großteil der Kommunen vertritt, findet die neuen Regelungen bedenklich. Er lehnt die Öffnung der Bauleitplanung rundweg ab.

Es gibt einerseits heftige Kritik, die die geplanten Änderungen für unzureichend hält, und ebenso leidenschaftliche Verfechter der Auffassung, die Änderungen seien zu weitgehend und bedrohten die Handlungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie. Der Prozess der Kompromissbildung war langwierig. Vor allem deshalb, weil die Verfassungsänderung zur Erleichterung von Volksabstimmungen von CDU und FDP nur unter der Bedingung mitgetragen wurde, dass ein Gesamtpaket geschnürt wurde. Das Prozedere ist umständlich – und ja, es macht ungeduldig. Aber es handelt sich um einen Entscheidungsprozess im Rahmen der parlamentarischen Demokratie.

Ist die Politik des Gehörtwerdens gescheitert?

Ist aufgrund der Verzögerungen und der schwierigen Kompromisse die Politik des Gehörtwerdens ein leeres Versprechen geblieben, verraten von einem Ministerpräsidenten, dem die Macht wichtiger ist als sein Demokratisierungsversprechen? Der noch dazu eine Staatsrätin bestellt hat, die kein Konzept für "Demokratie von unten" hat und höchstens etwas von Familienpolitik versteht? So in etwa der Tenor eines Artikels des verdienten Berliner Politikprofessors Peter Grottian in der letzten Kontext-Ausgabe.

Seine Argumentation sieht er zudem belegt durch einen Bericht, den der Verein "Mehr Demokratie" kürzlich vorgelegt hat: Das Land sei mit nur noch sechs Bürgerentscheiden im Jahr 2014 auf einem Tiefpunkt der Demokratie in den letzten zwei Jahrzehnten angelangt! Diese niedrige Zahl sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass die versprochenen Reformen noch immer nicht umgesetzt seien. Baden-Württemberg ist aber das Land, in dem kommunal und auf Landesebene am konsequentesten und intensivsten von allen Bundesländern eine Politik der Beteiligung der Bürgerschaft umgesetzt wird: Beteiligung an Dialogprozessen, bei der Planung von Großprojekten, Bundesstraßen, Hochwasserschutz, Energietrassen und bei der Entwicklung von Konzepten aller Art der Landesregierung und der Kommunen.

Das Land summt und brummt vor Beteiligung. Es ist gerade diese Form der dialogischen Partizipation, der deliberativen Demokratie nach Habermas, mit der ich als Staatsrätin beauftragt wurde: Ich sollte im Rahmen bestehender Gesetze einen Leitfaden für Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturvorhaben entwickeln – dieser Planungsleitfaden liegt vor und wird im Land bei allen Großprojekten der Landesregierung angewandt. Bundesweit stößt er auf reges Interesse.

Mehr Beteiligung in den Kommunen

Die Dialogprozesse auf kommunaler Ebene haben sich ebenfalls drastisch vermehrt und verbessert. Verwaltungen verstehen die Methoden nun besser. Sie haben gelernt, die Vorschläge der Bürgerschaft tatsächlich zu prüfen und ernst zu nehmen, nicht einfach in die Schublade zu legen. 239 kommunale Projekte wurden seit 2012 als Bewerbungen bei den beiden Leuchtturmwettbewerben des "Staatsanzeigers" eingereicht. Sie wurden ausführlich dargestellt und dadurch in allen Amtsstuben bekannt.

Der Dialog, früh genug und systematisch geführt, kann und soll durchaus die Konfrontation im Bürgerentscheid überflüssig machen. Eben weil die Beteiligung der Menschen in Dialogverfahren immer besser gelingt, werden Bürgerentscheide wohl seltener. Sie werden wahrscheinlich nicht drastisch zunehmen, wenn die neuen Gesetze verabschiedet sind. Bürgerentscheide bilden immer die Ausnahme, selbst in Bayern, dem Flächenland mit den niedrigsten Quoren, findet statistisch betrachtet nur alle 16 Jahre pro Gemeinde einer statt! Das meiste wird weiter im Gemeinderat entschieden.

Beteiligung in Dialogverfahren wird jedes Jahr und fast überall praktiziert. Sie ist der demokratische Normalfall, der die repräsentative Demokratie öffnet und sinnvoll ergänzt. "Keine größere Planung ohne Beteiligung": Das ist die Maxime des Landes und einer wachsenden Zahl von Kommunen, die die Bürgerbeteiligung zunehmend in kommunalen Leitbildern fixieren, wie zum Beispiel in Heidelberg.

Die Menschen sind mit der Demokratie im Kern zufrieden

Es gibt also sehr wohl ein Konzept, und zwar ein umfassendes, für die Politik des Gehörtwerdens – ein Konzept, das gleichzeitig die Frage beantwortet, wohin und wie sich die Demokratie weiter entwickeln soll. Die Befunde der Forschungsprojekte sind eindeutig: Die Menschen sind mit der Demokratie bei uns im Kern zufrieden, sie wünschen sich aber punktuell mehr Möglichkeiten der direkten Demokratie. Sie wollen ebenso nachdrücklich auch in solche Planungen eingebunden werden, wo sie letztlich nicht entscheiden können.

Hier liegt nun der blinde Fleck der Kritiker: Für Planfeststellungsverfahren etwa gibt es nicht die Möglichkeit des Bürgerentscheids. In der politischen Auseinandersetzung hat es sich leider eingeschlichen, bewusst die Unterscheidung von direkter Demokratie und deliberativen Verfahren zu verwischen. So werden informelle lokale Befragungen als Abstimmungen hochgespielt, ohne die tatsächlichen Zuständigkeiten für die Entscheidung zu beachten. Nicht immer ist allen Beteiligten auch bewusst, dass Abstimmungen in vielen Fragen gegen die Verfassung verstoßen würden. Ihre Forderungen nach mehr direkter Demokratie laufen daher ins Leere.

Ein Beispiel: Ein Fabrikbesitzer hat ein verfassungsrechtlich geschütztes Anrecht auf die Erweiterung seiner Fabrik. Das können wir auch nicht über Bundesratsinitiativen aushebeln. Möglich ist es aber, die Abwägungsentscheidung der Behörde gerichtlich überprüfen zu lassen. Mit unserem Planungsleitfaden können die Bürgerinnen und Bürger außerdem deutlich besser Einfluss nehmen. Denn sie sind früher informiert. Die gezielte Einbindung von "Normalbürgern" durch das Zufallsprinzip und nicht nur von Verbändevertretern dämpft aufgeheizte Situationen und fördert den Pluralismus. Die Menschen in ganz Deutschland wünschen genau diese Erweiterung der Demokratie in Richtung direkter Demokratie einerseits und Beteiligung bei der Entscheidungsfindung andererseits.

Bürgerbeteiligung ist eben nicht gleichbedeutend mit direkter Demokratie. Dieser wichtige Unterschied aber wird von populistischer Kritik stets verwischt. Es gibt viele Themen, zum Beispiel den Bau überregionaler Trassen, über deren grundsätzliches "Ob" im Bundestag oder Landtag entschieden wird, nicht durch die Behörde vor Ort. Wer in solchen Fällen ein Projekt grundsätzlich ablehnt, muss seinen Grundsatzprotest an die Regierung beziehungsweise die Parteien richten – eine grundsätzliche Ablehnung etwa des Fracking oder der Kohlegewinnung wird von den Parteien im Parlament entschieden. Nur sie können auch einmal gefasste Beschlüsse wieder verändern, wie es Bayern gerade bei den Trassenführungen versucht, um seine eigenen Wutbürger zu besänftigen. Der örtliche Widerstand hat in diesen Fällen nur dann eine Chance auf Gehörtwerden, wenn er im zuständigen Parlament eine Mehrheit findet.

Gibt es ein Wutbürgerveto gegen jede Entscheidung?

Das Land hat zahlreiche Verfahren durchgeführt, in denen die Bürgerschaft ihre Stimmen einbringen konnte. So beim Verfahren zum Nationalpark, aber auch bei Fachgesetzen, wie der Landesbauordnung. Das Land bezieht die Bürgerinnen und Bürger ein, bei der Debatte über Krankenhausversorgung, aber auch intensiv darüber, wo ein neues Gefängnis gebaut werden soll. Das Internet-Beteiligungsportal bietet eine weitere Plattform zur Teilhabe. Ist das alles keine Intensivierung und Vertiefung der Demokratie?

Herrscht "richtige" Demokratie nur dann, wenn die Mehrheit sich in Abstimmungen durchsetzt, wie beim Volksentscheid zu Stuttgart 21 – wobei einige S-21-Gegner ja genau diese Entscheidung ablehnen? Oder herrscht eine gute Demokratie nicht gerade dort, wo die Argumente von Individuen und kleinen Gruppen bei der Entscheidung systematisch berücksichtigt werden, wie das in deliberativen Beteiligungsverfahren der Fall ist? Gibt es ein Wutbürgerveto gegen jede Entscheidung? Sollten nicht auch Befürworter von Vorhaben, die oft leiser sind, mehr wahrgenommen werden? Ist es nicht der Mühe wert, gezielt die stillen Gruppen, also Jugendliche, Frauen und Migranten, aktiv in Diskussionen einzubinden, etwa in Familienzentren? Ist das Parlament im Unrecht, wenn es Entscheidungen trifft, die manche nicht zufriedenstellen?

Dies sind die Fragen, um die es wirklich geht, hier und in anderen Ländern. Wir arbeiten an einer Balance, intensiver als jedes andere Bundesland und so systematisch, dass die Bürgerbeteiligung sogar Teil der Fort- und Weiterbildung der Landesverwaltung ist. Die Bevölkerung merkt das. Sie findet laut Umfragen, dass sich die Demokratie in Baden-Württemberg stetig verbessert. Sie hat ein feines Gespür für den neuen Stil, der sich überall bemerkbar macht. Der Ministerpräsident und die Regierung sind populär, weil die Menschen diese Erfahrung machen.

S-21-Gegner haben das Vertrauen verloren – zu Unrecht

Ich frage mich oft, warum sich manche Menschen so schwer damit tun, wahrzunehmen, was sich inzwischen zum Thema Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg entwickelt hat. Demokratie lebt sowohl vom zivilen Streit als auch von der praktischen Kooperation und dem Vertrauen. Etliche S-21-Gegner haben wohl vor allem das Vertrauen verloren. Ich meine, zu Unrecht. Die Volksabstimmung war korrekt: Die Argumente lagen auf dem Tisch und wurden in einer Abstimmungsbroschüre dargestellt. Die Bevölkerung, auch und gerade diejenigen, die S 21 ablehnen, akzeptieren zu über 75 Prozent diesen Volkentscheid. Eben weil es mir und uns darum geht, Demokratie nicht nur als ewiges Spiel von Ja und Nein, von Mehrheit und Minderheit, zu begreifen, fördern wir das Konzept der deliberativen Demokratie.

Hier liegt der wahre Dissens mit vielen unseren Kritikern – und hier liegt der Denkfehler derer, die der Politik des Gehörtwerdens ein Scheitern vorwerfen. Protest, Struppigkeit, ja Zorn – alles das gehört zur lebhaften Demokratie und ihrer Weiterentwicklung. Allerdings kann Protest nur nachhaltig sein, wenn er sich langfristig in Gesetzen und Verfahren niederschlägt. Unser Auftrag ist nicht die unmittelbare Vertretung von Protestbewegungen, sondern die Schaffung von Rahmenbedingungen und Verfahren, die dem Protest und seinen Argumenten ebenso verlässlich Gehör verschaffen wie den Argumenten anderer Akteure.

Eine starke Zivilgesellschaft kann diesen Geist der neuen Verfahren am Leben erhalten. Um die Zivilgesellschaft zu stärken, fördern wir massiv das zivilgesellschaftliche Engagement, zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe. So hoffen wir, eine offene, tolerante Demokratie auch für schwere Zeiten zu erhalten. Mit diesem Auftrag sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Genau so hat es der Ministerpräsident zu Beginn seiner Amtszeit versprochen.

 

Gisela Erler (69), ist Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg.


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32 Kommentare verfügbar

  • Stuttgarter
    am 22.01.2016
    Antworten
    Frau Erler auf dem Schillerplatz in Stuttgart. Nun der Schiller hätte keine Freud mit deren Gedankengängen. Mit Recht.
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